Wer dieses Jahr den Torschützenpreis auf den 68. Filmfestspielen in Cannes gewonnen hat, ist nicht leicht zu entscheiden. Denn John C. Reilly und Benicio del Toro liefern sich ein knappes Wettrennen: Beide Schauspieler sind dieses Jahr gleich mit je drei Filmen vertreten. Der eine, Reilly, spielt in Yorgos Lanthimos’ „The Lobster“ einen lispelnden Einzelgänger auf der Suche nach Liebe und Zweisamkeit, in Matteo Garrones „Tale of Tales“ einen mutigen König, der für seine Göttergattin einen Unterwassendrachen tötet und dabei selbst umkommt, und in Thomas Bidegains „Cowboys“ einen geldgierigen Händler. Der zweite, del Toro, geht in Denis Villeneuves „Sicario“ als skrupelloser Auftragskiller auf einen hoffnungslosen Revanche-Feldzug gegen mexikanische Drogenbosse, gibt in Fernando León de Aranoas „A Perfect Day“ einen charmanten Menschenrechtler und leiht im Animationsfilm „The Little Prince“ von Mark Osborne der fiesen Schlange seine Stimme. Hinter den beiden hat sich auch eine Dame eingereiht: Rachel Weisz. Die Britin verliert in „The Lobster“ ihr Augenlicht, weil sie sich verliebt hat, und in Paolo Sorrentinos „Youth“ ihren Ehemann an ein tussiges Popsternchen. Die drei könnten also gemeinsam auf dem roten Teppich vor dem weißen Palais de Festival ein blaues Zelt aufstellen (Vive la France!) und von einer Galapremiere zur nächsten ziehen.
Aber so ziehen lieber die unzähligen Branchenmenschen, Filmenthusiasten und Journalisten von einem Kinosaal zum nächsten, immer schön zeitig, um in den langen Schlangen noch schnell eine der unzähligen Festivalmagazine – Variety, Hollywood Reporter, Gala, etc. pp. – durchzublättern. Und dann geht es weiter. Und dann beginnt wieder alles von vorne. Mittlerweile hat sich das auch wunderbar eingespielt. Dann ist man auch pünktlich um 7:30 Uhr in der Früh am Palais, um sich einen guten Platz für das morgendliche Screening zu sichern: Tag sechs – Stéphane Brizés Low-key-Sozialdrama „The Measure of a Man“; Tag sieben – Denis Villeneuves Drogenthriller „Sicario“; Tag acht – Paolo Sorrentinos Ode an die Jugend, „Youth“.
Nehmen wir einmal Villeneuves Grenzstudie „Sicario“. Darin soll eine Sondereinheit versuchen, den Drogenverkehr zwischen Mexiko und Amerika zu stoppen – oder wenigstens ein wenig einzuschränken, indem sie einen der Kartellbosse ermorden. Also ein Zeichen setzen und sagen: Leute, das lassen wir uns nicht gefallen. Dafür beauftragen sie den kaltblütigen Kolumbianer Alejandro (del Toro), denn ihm ist alles scheißegal, hat er doch seine Frau im Drogenkrieg verloren. Mit einem vibrierenden Basssoundtrack rasen die Amerikaner in schwarzen Chevi-SUVs durch die Grenzwüste, um sich in die verlorene Stadt Juarez vorzuwagen. Dort baumeln an jeder Ecke zerstückelte Leichen von Laternenmasten, Brücken und Häuserfronten – mal mit Kopf, mal ohne, mal mit allen Extremitäten, mal ohne alles. Es ist eine schockierende Welt, die sich dort direkt neben dem Land der Träume entfaltet. Und genauso brutal stellt sie Villeneuve auch dar, was am Ende nur dazu führen kann, dass auch die toughe FBI-Agentin Kate die Hoffnung aufgibt und die Situation akzeptiert: Gewinnen kann man diesen Krieg nicht, sondern nur der Gewalt mit Gewalt entgegentreten.
Ähnliche Bilder zeigt der kolumbianische Beitrag in der Reihe Un certain regard, „Alias María“ von José Luis Rugeles. Guerillakämpfer pirschen sich durch den dichten lateinamerikanischen Urwald, um den sadistischen paramilitärischen Einheiten zu entkommen, die gerade das Land einnehmen, Häuser abfackeln und Menschen zerstückeln. Auch sie demonstrieren die Macht, indem sie die toten Körper der unschuldigen Landbevölkerung vor den Toren der Dörfer aufhängen. Eine wirkliche Lösung gibt es auch für dieses Problem nicht. Der Krieg wird auch hier weitergehen, ohne dass sich etwas ändern wird. Vielmehr ist Rugeles’ Drama eine düstere Momentaufnahme, die zeigt, in welchen Umständen sich Teenager, schwangere Frauen und machistische Männer durchkämpfen müssen – jenseits jeglicher Zivilisation.
Diesen dokumentarischen Anspruch findet man auch in einem weiteren Drama der Sparte Un certain regard: in Brillante Mendozas „Taklub“. Der philippinische Regisseur skizziert in hyperrealistischen Bildern den Horror, den eine verheerende Naturkatastrophe mit sich bringt. Ein Tsunami zerstört einen kleinen Küstenort, dessen Bewohner daraufhin in menschenunwürdigen Zeltlagern hausen und tagtäglich um ihre Toten trauern – vorausgesetzt man hat diese bereits gefunden und identifiziert. Dann brennt auch noch eines dieser lausigen Zelte ab und vergräbt in den Flammen eine gesamte Kleinfamilie. Der Schlamm, das Wasser, die heruntergekommenen Brettervorschläge – allesamt halten sie dem Zuschauer den Spiegel vor und demonstrieren, dass es noch eine andere Welt da draußen gibt, die sich mit ernsthaften Dingen auseinandersetzen muss, mit dem Überleben.
Dann ist es fasst schon wieder erleichternd und erheiternd, wenn man sich von den wunderbar inszenierten Bildern in Sorrentinos „Youth“ berieseln lassen kann. Der Schauplatz ist hier ein idyllisches Schweizer Wellness-Hotel, in dem die internationale Crème de la Crème aus der Promiszene ihre Seele und ihre Körper baumeln lassen. So leicht das aber jetzt klingen mag, ist es aber am Ende doch nicht. Vielmehr inszeniert der italienische Filmemacher eine zynische Ode an die Jugend – und an die Schönheit, in der die alten Herren (in diesem Fall Michael Caine als Dirigenten-Greis und Harvey Keitel als Drehbuch-Senior) etwas zu glotzen haben, wenn vor ihnen die makellose Miss Universe nackt in den Pool gleitet. Sie sind alt und am Ende ihres Lebens angekommen, und genau mit dem müssen sie sich jetzt auseinandersetzen, während im Hintergrund die übrigen Wellness-Gäste ihre Bade-, Tanz- und Sauna-Choreografien zum Besten geben.
Und dann wäre da natürlich auch noch Todd Haynes Wettbewerbs-Beitrag „Carol“, eine ruhige Gesellschaftsstudie über zwei Frauen, die eigentlich nur zusammen sein möchten, es aber zunächst nicht können, weil es die Gesellschaft nicht erlaubt. Cate Blanchett verkörpert darin die verdrossene Society Lady Carol. Sie führt eine todunglückliche Ehe, wollte deshalb ihren Gatten auch schon mehrmals verlassen. Aber kommt einfach nicht von ihm los, weil er sie in der Hand hat: Er hat sie bereits einmal mit einer Frau erwischt – und das passt nicht in das schicke Upstate New York der fünfziger Jahre. Und vor allem nicht, wenn die neue Affäre von Carol die junge, naive Kaufhausangestellte Therese ist (Rooney Mara). Zwischen den beiden entwickelt sich eine derart unerträgliche – im positiven Sinne – sexuelle Spannung, dass man ihren Annäherungsversuchen auf der Leinwand nur noch staunend zusehen kann. Die zärtlichen ersten Berührungen, die hibbeligen Telefonate, die Sehnsucht nach einander. Einfach nur traurig und bildschön.
Wie kann es jetzt nur noch weitergehen in Cannes? Ganz passend: mit Gaspar Noés Melodrama „Love“, das am achten Tag nach Mitternacht Premiere feiert. Wir sind gespannt!
Besprechungen im Überblick
„Youth“ (Ausführliche Kritik)
Paolo Sorrentino stilisiert nach seinem letzten Cannes-Erfolg „La Grande Bellezza“ erneut alte Herren, aber dieses Mal nicht in Bella Roma, sondern in den idyllischen Schweizer Alpen. „Youth“ ist eine zynische Ode an die Jugend und die Schönheit, in der jedes kleinste Detail perfekt durchchoreografiert ist. Die Bilder, die Konversationen, die Figuren. Dann dreht sich das Bühnenkarussell, während im Hintergrund die schönen reichen Wellnesshotelgäste tanzen; das Kuh-Orchester muht im Takt, als Fred auf einem Baumstumpf Platz nimmt und beginnt, die Natur zu dirigieren. Alle reihen sich ein in den einheitlichen Saunamarsch.
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