In der enormen Läuterung des Körpers über die zehntägige Festivalzeit vergisst man leichthin, um was es wirklich geht. Nein, nicht um die Filme. Obwohl: ja, durchaus ein wenig. In Wirklichkeit aber geht es um die Menschen. Es geht um den Algerier, der mich an Tag 2 mit dem Auto mitnahm, als um halb elf keine Züge mehr fuhren; es geht um die Norweger, die für einige Tage nach Cannes flogen, weil sie ihren Sohn Hallvar Witzø (Oscar-nominiert für „Tuba Atlantic“) unterstützen wollten, der im Kurzfilmwettbewerb seinen Beitrag „Ja vie elsker“ vorstellt und die mit dem französischen Fahrkartensystem berechtigt überfordert waren; es geht um den Briten, den ich vor der Vorführung von „Foxcatcher“ traf und mit dem ich danach die bisher gemachten Erfahrungen austauschte; es geht um die Spanier und Italiener, die ebenso gelb wie ich meist als Erste in den Schlangen anstanden und die ich jederzeit wieder traf; es geht um den Schweizer, der mich unbekannterweise auf Cannes vorbereitete, dass ich wie ein alter Hase in die Vorführungen lief. Man kennt seine Leute hier recht schnell. Das Thema schließlich ist immer dasselbe: die Filme. Also ja, doch, es geht um die Filme in Cannes. Aber ohne die Menschen wären die Filme wohl im Verhältnis sehr uninteressant.
Welchen Film es für diese Erkenntnis nicht zwingend gebraucht hätte, war David Cronenbergs „Maps to the Stars“. Denn da saß oder stand oder hockte man irgendwie für zwei Stunden vor den Toren des Salle Debussy. Und man hockte und hockte und hockte. Und dann stand man auf, es war kurz vor sieben. Und man ging. Heimwärts. Sonstwohin. Die Mundwinkel hingen ein wenig nach unten, egal wie unwahrscheinlich das Unterfangen schon zuvor zu sein schien. Denn der Saal, ja, der war schon voll, bevor überhaupt ein Gelber freudig auf den Balkon rennen konnte. Immerhin schaffte es aber auch nur die Hälfte aller Blauen, was das Melodram ein wenig besser machte. Nicht besser machte es danach eine von mir geschätzte Kollegin, die mit Strahlen in den Augen von Cronenbergs bestem Film der letzten zehn Jahre erzählte. Meine Hoffnung liegt nun in einer Wiederholung am Samstagvormittag, bevor es zurück nach Deutschland geht. Ansonsten regulär.
Aber ich will mich nicht beschweren. Bis auf Tag 5 hielt das Wetter wunderbar seine tägliche Sonnenzeremonie ab und ließ wenig Grund zu frösteln oder die Nase zu rümpfen. Beim Essen wendet man sich eben an einen von den zahlreichen Foodtrucks an der Croisette, wo es dann von Crêpes über Hamburger bis zu Paninis alles gibt, was schnell (sehr wichtig!) und einfach (noch wichtiger!) verspeist werden kann. Den Hungertod erleidet man hier nicht. Aber man könnte braun werden. Wobei ich mir sicher bin, dass Nicole Kidman und die graziöse Julianne Moore (die fleißig Autogramme gab) darüber auch nicht allzu erfreut wären. Unerfreulich endete dann auch gleich der argentinische und damit einzige lateinamerikanische Wettbewerbsfilm „Relatos Salvajes“ von Damián Szifron, welcher sehr an eine Mundspülung erinnerte. So grandios frisch dieser startete, torkelte er doch gegen Ende wie ein angeschossenes Reh. Und man wollte dringend ausspucken, wenn nicht sogar mehr. Wie passend, dass erst danach die Cronenberg’sche Warteschlangenkatastrophe folgte.
Solch ein Debakel erübrigte sich dafür am darauffolgendem, bislang bestem Tag mit drei mehr als guten Filmen. Zuletzt wuchtete sich sogar Naomi Kawase mit ihrem stillen Gewässer „Futatsume no mado“ empor. Eine wundervoll poetische Coming-of-Age-Fabel, die eher meditiert, als wirklich erzählt. Das sah beileibe nicht jeder so – wie beispielsweise meine Sitznachbarin, die über mindestens 100 Minuten höchst aktiv an ihren Fingernägeln knabberte und mir schließlich jeglichen Nerv raubte, als sie zudem dringend SMS schreiben musste (Inhalt: der Film sei schrecklich). Wo wir wieder bei den Menschen wären. Denn die machen dieses Festivals zu mehr als einem gigantischen Filmmarkt.
Besprechungen im Überblick
„Foxcatcher“ (Ausführliche Kritik)
Einmal, noch ganz zu Beginn, muss Dave überzeugt werden, Mark unter dem Regime du Ponts zu trainieren. Er weigert sich. Ob es um Geld ginge, will du Pont wissen. Mark meint darauf, dass Dave nicht zu kaufen wäre, dass er anders sei als er selbst. Wie Carell dort in die Leere blickt, wie er Mark im Unglauben für einige, für das zeitgenössische Kino sehr lange Sekunden fixiert, da sprudelt es seltsam aus „Foxcatcher“ heraus. Denn Bennett Miller schafft noch Film, der atmen kann und schlucken muss. Und wenn man sich bislang unsicher war, ob Miller nach der lustvollen Biografie „Capote“ (2005) und dem Baseball- wie Statistiker-Vehikel „Moneyball“ (2011) die dritte kohärente Geschichte über ein aus den Fugen fallendes Amerika stiften könnte, dem sei schließlich gesagt: Es sitzen noch Wunderkinder da draußen. Und Bennett Miller ist eines von ihnen.
„Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ (Ausführliche Kritik)
Es gibt Film, der zählt einzig auf seine Referenzen, um ihm auch den letzten Funken Originalität zu rauben. So sagen selbst die Pressematerialien schon über Damián Szifróns „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“, er pendele irgendwo zwischen Joel und Ethan Coen, Quentin Tarantino und Pedro Almodóvar – was ein vermeintlich kleines Wunder ist, produzierte letzterer doch ohnehin das argentinische Scharmützel über die Explosion des Menschen in seiner Wut. Eine Glanzszene dramatischer Ironie leitet diese Anthologie, die natürlich kein wahrhaftiger Szifrón mehr ist, allerdings noch ein: Über den Wolken reist dort eine Gruppe sich eigentlich unbekannter Menschen, bis ein Laufstegmodel gegenüber einem Musikkritiker bemerkt, dass ihr erster Freund von eben jenem Kritiker einmal in Grund und Boden zerstoben wurde. Der Loser schlägt natürlich zurück, jagt das Flugzeug als Kapitän in den Himmel – und mit ihm alle, die ihm im Leben nichts Gutes wollten.
„Xenia“ (Ausführliche Kritik)
Ein Laut zwischen Keuchen und Lutschen. Zwischen Verkehr und Lolli. Aber erst: ein Hase. Nicht das Bunny, sondern der Hase. Nicht sprich-, wortwörtlich. Die Entfremdung von seinen Menschen stößt Koutras in blendender Tradition in eine, wie er seinen Film selbst nennt, etwas andere griechische Odyssee. Womit er Recht und gleichsam Unrecht hat. Etwas anders ist dieser „Xenia“. Natürlich. Zugleich ist dieser „Xenia“ aber auch humanistisches Grenzgängerkino und läutet immer wieder Referenzen auf Koutras’ eigene Filmografie (insbesondere „Strella“ über die Suche eines Vaters nach seinem Sohn) ein, wie er auch Charles Laughtons „Die Nacht des Jägers“ ohne Umschweife in seinen Kanon integriert. Panos H. Koutras fragt, ob Humor Griechenland oder die Welt retten kann. Wer weiß. Aber Koutras weiß, zu welchen erstaunlichen Dingen Film imstande ist.
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