Auch ein Perfektionist fing klein an. Stanley Kubrick war das Auge und seine Kamera die Sehhilfe. Er erschloss Genres, indem er nicht deren Mythologie übernahm, sondern deren Grundlagen und Denkvermögen anzweifelte, fortsetzte, ausschöpfte und zu visionärer Neugestalt transzendierte. Kubrick war der manische Wissenschaftler, der gestalterische Lieferant eines schwer zugänglichen Seh- und Begreifprozesses, der Filmschöpfer des zentralisierten Bewegungsbildes, der Chefingenieur eines Kino-Aufbruchs, der nicht mit sprachlichen Worten möglich war, aber im existenzialistischen Raum des Bildes zerlegt wurde. Auf die Frage, was der Mensch sei, beantwortete Kubrick sie als technokratischer Maler: Dafür mussten seine Figuren perspektivisch hin- und hergeschoben, gesetzt und zerstört werden, bis zum Ende des Anfangs und zum Anfang des Endes. Geistige Wiedergeburt, der Fluch der Unendlichkeit in der Endlichkeit geometrischer Rhythmen. Bevor Kubrick aber zum Künstler wurde, der übertritt und überstieg, war er ein investigativer Fotograf und in einem Atemzug ebenso Auftragstipp wie Werbeempfehlung. Kubrick bildete ab, es ging um kein Füllen, Fordern und Fühlen, um die ewige Kontrolle des Arrangierens tiefsitzender Gedanken.
Vor seinen Spielfilmen drehte Kubrick drei Kurzdokumentationen. Beeinflusst von einem fotografischen Ausdrucksstil (Kubrick arbeitete als Amateurfotograf für die Zeitschrift Look), der erst später eine erzählerische Basis verzeichnete, vereinigen sich alle drei Werke zu einer ersten hauchdünnen Suche nach dem illustrativen Ornament des Bildes in einer Entwicklungsphase. Sie sind ungeschliffen, archaisch, dokumentarische Agitation, idealisierte Werbung und betagtes, torsohaftes Stückwerk, aber auch so weit interessant, als dass sie geeinigt werden – von der trägen, starr-spröden Komposition des Bildes, vom Warten, vom Blick, vom Menschen in einem Dilemma der Wiederholung und Gelegenheiten unbekümmerter Aufopferungsliebe. Auf diese Kurzfilme war Kubrick nie gut zu sprechen, weil seine Karriere erst ab seinem ersten Film „Fear and Desire“ anfing, schöpferisch zu gedeihen. Trotzdem sind „Day of the Fight“, „Flying Padre“ (beide 1951 entstanden) und „The Seafarers“ (1953) anschauliche Zeugnisse und verschüttete Artefakte, sich einem zu häufig missverstandenen Filme- und Bildermacher im Innersten zu öffnen, der nichts lieber wollte als gegen die künstlerische Beschränktheit eingebürgerter Diktate aufzubegehren.
Für „Day of the Fight“ beobachtete Kubrick den Boxer Walter Cartier, wie er sich auf einen wichtigen Kampf vorbereitet und, einem Überraschungsschlag geschuldet, schließlich als Sieger die Arena verlässt. „Day of the Fight“ suhlt sich im Alltagsrauen, weil dieser Kurzfilm elliptisch, suggestiv und in kurz angebundenen Beschreibungen eine Reportage über einen „ganz normalen Arbeitstag“ auf bescheidenem Niveau schildert. Als Bausatz für Kubricks zweiten abendfüllenden Film „Der Tiger von New York“ (selbes Sujet, professionellere Technik) ist er stattliches, grob gerastertes und ungemein schnelllebig gefilmtes Handwerk, das sich in der Planung für Größeres, Weitblickenderes und Umfassenderes befindet. Cartier als Boxer, dessen gewonnene und verlorene Kämpfe lediglich die nächsten ankündigen, greift Kubricks frühen Rohentwurf von einer in der Regelmäßigkeit eines Rades funktionierenden Zeitschleife auf, die ausschließlich partiell Erlösung gestattet. Zwei Einzelszenen verdienen besondere Aufmerksamkeit: Wenn Cartier mit seinem Hund spielt, bezeugt Kubrick, dass auch er mit Wärme eine allzu herzensechte Emotion filmen kann. Und in Richtung „Uhrwerk Orange“ schielt demgegenüber ein Augentest kurz vor der Prüfung. Wie prophetisch.
„Flying Padre“ hingegen ist die vielleicht gewöhnungsbedürftigste Arbeit, überkandidelt heiter, thematisch isoliert und einem naiven Naturalismus für eine Touristenbroschüre verpflichtet. Zwei Tage lang begleitete Kubrick einen Pfarrer namens Fred Stadtmueller. Ein ulkiger Geselle, der in seinem Flugzeug tausende Meilen zurücklegt, um in mehreren Kirchen verfügbar zu sein. Was Kubrick daran interessiert haben mag? „Flying Padre“ bedeutet vordergründig zwei, drei Schritte nach vorn im experimentellen Findungsstadium des Regisseurs, parallel zum Fotografischen, Einrahmenden und bildnerisch Verpackenden eine rudimentäre, drollige, humanistische Geschichte zu erzählen (mit einem Baby in Not). Eine Gemeinsamkeit teilt „Flying Padre“ hierbei mit „Day of the Fight“: Beide können als Porträt gesehen werden, einer außergewöhnlichen Person, die sonst im kollektiven Bewusstsein in einer Dunkelkammer haust, einen Platz anzubieten, der ihr respektvoll huldigt. Auch visuell hat Kubrick in diesem zweiten Kurzfilm entscheidend dazugelernt, denn von lakonisch eingefassten, grimmigen Gesichtern, über dekorative Kameraschwenks bis zu voluminösen Flugsequenzen öffnete sich Kubrick dem Raum, den Verbindungsstücken seiner Filmgrammatik.
Wo „Flying Padre“ mit narrativen Texturen in einem Zustand ästhetischer Reife bereits Kubricks Spielfilme im Voraus planten, besinnt sich „The Seafarers“, letzter Dokumentationsbeitrag, abermals vermehrt auf den Fragmentarismus penibler Situationsabläufe und das Stichprobenartige aus „Day of the Fight“. Kubrick musste schlicht ein vorgegebenes Drehbuch in Bildern umwandeln. Engagiert hatte ihn die New Yorker Seefahrtsgewerkschaft (kurz: SUI) für einen halbstündigen Clip in deren Hauptzentrale, der verheißungsvoll Ehre, Ruhm und Vaterland glorifiziert, während Seemänner zur ultimativen Freiheit auf dem Meer schippern. Ein pathosgeschwängertes Loblied auf amerikanischen Heldeneifer ist „The Seafarers“, aber auch detailbesessen (zu detailbesessen: das Essen in der Kantine) und voller Bewegung. Das Kompositionstalent Kubricks, das ebenso Symmetrische wie Ausschmückende seines Stilllebens, bildet die Quintessenz dieses propagandistischen Marketinggags, der – und das betrifft allerdings jeden dieser Kurzfilme – von der erdrückenden Sprachgewalt des Voice-over-Kommentators gehemmt wird. Dies ist der Widerspruch aller drei Projekte aus den Anfängen Stanley Kubricks: Sie bebildern und assoziieren, aber (vorerst) mit Stützen, Rettungsringen und Grenzen.
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