George Orwell hat unzählige Künstler mit seinen dystopischen Klassikern wie „Farm der Tiere“ (1945) und „1984“ (1949) inspiriert. Gerade letzterer lässt die Idee eines radikalen Überwachungsstaats automatisierender Entmenschlichung und Bürokratisierung aufleben und beschreibt die tödlichen Räder eines solchen Systems anhand eines Einzelschicksals. Terry Gilliam, der in den USA geborene Brite und wichtiger Bestandteil der Komikergruppe Monty Python, gehört zu jenen Künstlern, welche die niederschmetternde Welt von Orwell mit ins 21. Jahrhundert getragen haben. „The Zero Theorem“ bildet den Abschluss seines Orwell-Triptychons nach „Brazil“ (1985) und „Twelve Monkeys“ (1995). Alle drei Filme spielen in einer dystopischen Welt voller satirischer Skurrilität und genialer Einfälle, mit einer Handschrift inszeniert, die an Wiedererkennungswert kaum zu überbieten ist. Ein Triptychon betont zwar das mittlere Gemälde, „The Zero Theorem“ ist jedoch ein würdiges Ende dieser Trilogie.
In einer verlassenen Kirche haust Christoph Waltz als Computergenie Qohen Leth. Die zukünftige Welt ist farbenfroh und übersättigt. Bildschirme verfolgen Passanten, ästhetisch angelegte Schilder verbieten auf öffentlichen Plätzen das Grinsen und Musik hören. Leth arbeitet für die Firma Management, ein ominöses Unternehmen, dessen Geschäftsführer Matt Damon spielt und der mit einer Formel für den Sinn des Lebens Geld verdienen will. Management behauptet, der Sinn hat mathematisch gesehen das Ergebnis 0: Alles führt zu nichts, dies gilt es, zu beweisen. Dafür benötigen sie Leth, der selbst seit unbestimmter Zeit ungeduldig auf einen Anruf spekuliert, von dem er sich den Sinn des Lebens erwartet.
Ausgerechnet ein Online-Callgirl namens Bainsley (Mèlanie Thierry) könnte dieser menschgewordene Anruf sein, während er seine Persönlichkeit, die er stets im Gespräch pluralisiert, nach und nach auf arbeitsbedingter Beweissuche unter erdrückenden Zuständen der Überwachung verliert. Gilliam lässt vieles einfach passieren, eine Erklärung gibt es kaum, seine Fantasie mischt sich immer wieder in die expressionistischen Bilder ein, sodass ein für ihn typisch faszinierender Sog aus Traum und Wirklichkeit, digitaler und realer Welt entsteht, den seine Anhänger lieben und der die steifen Realisten anbiedert. Im Vergleich kann es „The Zero Theorem“ nicht mit der Bildgewalt von „Brazil“ und auch nicht mit der Story von „Twelve Monkeys“, die übrigens von Chris Marker aus dem Film „Am Rande des Rollfelds“ (1962) stammt, aufnehmen, dennoch bietet Gilliam einen wundervollen Film an, der vor allem von dessen angesprochener Imaginationskraft und Waltz’ gewohnt starkem Schauspiel profitiert. Immer wieder gibt es Parallelen zu den beiden anderen Filmen, wie beispielsweise ein junges Computergenie, dessen Rhetorik und Gestik an Brad Pitt in „12 Monkeys“ erinnert oder David Thewlis’ Rolle, ein Supervisor, der zum Teil ähnlich ist wie Robert De Niro in „Brazil“. Alle Figuren tragen zum schrägen Humor dieses schrägen Films bei, der auch noch häufig im schrägen Winkel gedreht wurde, ein Markenzeichen von Gilliam, genauso wie die ultraweitwinkligen Brennweiten, die die Räume und Körper zu gerne verzerren und damit die grotesken Figuren noch grotesker einfangen.
Vom biblischen Prediger Kohelet stammt laut Drehbuchautor Pat Rushin die Idee für den Namen Qohen. Dieser stellte schon im Alten Testament die Frage nach dem Sinn, wenn es kein Leben nach dem Tod gäbe. Es geht um Qohens Existenzangst, Soziophobie, seine allgemeine Abwendung von der Realität, doch dies alles führt zu einer sensationellen Entdeckung: Es geht um seinen Glauben. Er hat eine Glatze, trägt in der kunterbunten Welt mönchartig als Einziger schwarz, sein abnormaler Werdegang, weg von Dekadenz und Hedonismus, könnte als Eintritt in eine religiöse, bewahrende Lebensweise gedeutet werden, weswegen er die Kirche wortwörtlich belebt. Selbst der erwähnte ersehnte Anruf kann hier problemlos als der Wunsch nach einem Zeichen von Gott interpretiert werden.
Rushin und Gilliam fädeln diese Religiosität in eine Zeit der Dystopie ein, die so etwas wie Religion nicht mehr braucht, ja schon längst vergessen hat. Management wählen einen tiefgläubigen Menschen aus und testen ihn. Sie testen, ob er seinen Glauben verlieren kann und schicken Bainsley, die attraktive Zukunftsprostituierte, eine todsichere Versuchung. Strengstens wird dies von zahlreichen Kameras beobachtet, von denen eine ikonografisch am Kreuz Jesu dessen Kopf ersetzt und wie in Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) als ein rotes Ein-Punkt-Lebewesen auf sakrale Art und Weise den geweihten Ort bestarrt. Wieder einmal ist es also das gezielte Experiment mit Menschen, welches Gilliam bebildert, und das eine Verbindung zwischen den drei Dystopien herstellt. Doch ob das Bestehen dieses Tests gleichzeitig die Eintrittskarte zum Paradies ist, das bleibt offen, wenngleich dieser Gedanke mehrfach präsentiert wird.
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