Die Kunst ist tot, das Leben wertlos. In Cumbria, einer Grafschaft im Nordwesten Englands, branden diese zwei Fakten über die Ufer des Derwent Water und würgen sich weiter nach Mosedale. In ein kleindörfisches Nest, das selbst den größten Technokraten zwingen würde, über Tag und Nacht die städtische Konsumkultur zu erbrechen. Hier stehen mausgraue, Efeu umrankte Cottages Reih an Reih und doch Kilometer voneinander entfernt. Dazwischen auch: eine kleine, enge Rumpelkammer von Haus, wie an Paketschnüren zusammengezurrt; ein eigenständiges Wesen aus Ziegeln und Zement, dem dichten, klebrigen Wetter zum Trotz von Menschenhand in die Welt geboren. Dort leben Mariah (groß: Gemma Jones) und Leonard (großartig: Richard Johnson) in Tom Brownes „Radiator“. Auf einer Insel des unbedingten Widerstands. An der Pforte zum Tod, der ihnen womöglich weniger unbequem ist als das momentane Leben in Zank, Demenz und Uneinigkeit. Doch Mariah spürt, dass sie dem Ende noch nicht gewachsen ist. Und ruft Sohn Daniel (Daniel Cerqueira), damit er Leonard aus seinem in Decken gewickelten Regiment und seinen Exkrementen stößt.
Sein Vater aber ist ein alter, hochnäsiger Bully, ein Tyrann mit Besteck, Seziermesser und Mars-Riegel, der Strohhalme entzweischneidet und nach Mariah wie einer impertinenten Bediensteten krächzt. Das Alter könnte ihm zugesetzt haben, das Leben auch, die Ehe vielleicht. Doch irgendwie, mit einem raffinierten, subtilen Perfektionismus, der an Michael Haneke und sein nacktes Todesschauspiel „Liebe“ erinnert, kennt Tom Browne keine Melodramatik. Natürlich kennt er Unglück, Qual, Pflicht, Wehmut, Stillstand. Denn seine Geschichte ist wahrhaft seine Geschichte: seine Vergangenheit, sein Trauma, sein Versuch der Buße, der Erlösung, Archivierung, Konservierung. „Radiator“ ist Brownes Abbitte an seine verstorbenen Eltern. Daher spielt sein Debüt auch im Haus dieser, atmet Erinnerung um Erinnerung, platziert ein Knarren hier, einen Wandteppich da, und rüstet sich entlang eines vermeintlich egozentrischen Voyeurismus, der in Wahrheit die ungeheuere, absonderliche Liebe eines, vermutlich jedes Sohnes zu seiner Mutter und zu seinem Vater porträtiert. Mit dem Alter wird niemand weiser. Nur dümmer. Und doch ist alles nur Ouvertüre. Davon erzählt Browne eindrücklich, doch immens flüchtig.
Die Geschichte eines Hauses ist zuweilen die Geschichte eines Lebens – und ebenso die Geschichte eines äußeren und inneren Gefühls, das sich sträubt, Gegenwart und Zukunft anzuerkennen. Weil die Vergangenheit zu schön war, zu schön für ein Leben. Bei Tom Browne ist die Gegenwart ein Laster für jene, die es als Laster verstehen. Wie für Daniel. Für eine Aufarbeitung ist es jedoch niemals zu früh oder spät.
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