Erschöpft das Vertrauen, kennt selbst Film weder Feind noch Freund. Doch die Bedeutung allein meistert das Gedächtnis. Es nimmt die Erfahrungen, die Verhaltensweisen und Gefühle, und fügt sie entlang der Knospen des Nervensystems ein, es spinnt einen dünnen Faden um die Erinnerungen. Drei Komponenten bestimmen das philosophische Spiel des Langzeitgedächtnisses: das prozedurale, semantische und episodische Gedächtnis. Nicht immer jedoch ist eine Erinnerung eindeutig in eine Definition zu pressen. Was nun aber, wenn etwas gestohlen und jemandem auf den Kopf geschlagen wurde, dieser sich nicht an das Versteck erinnern kann, und somit seinen kriminellen Partner auf den Plan ruft, einen Hypnotiseur anzuheuern?

Danny Boyle nimmt den Zwiespalt für „Trance“, wirft ihn in einen Kreisel der Traumlandschaften, Halluzinationen und Albträume, fügt ein herbes Potpourri bekannter Genres und überhöhter Stilistik hinzu und nistet sie in Finten und Hinterhalte ein. Ein Kunstraub liefert die Einstimmung für Boyles Konstellation aus doppelten Böden, die in immer weiteren münden und darunter eine Falltür offenbaren. Zunächst tritt der Kunstauktionator Simon (James McAvoy) in Aktion, schnappt Francisco de Goyas „Flug der Hexen“, schneidet das Öl-Bildnis aus seinem Rahmen, verpackt es in einer scheinbar gewöhnlichen Tasche und hastet der rettenden Abwurfschleuse entgegen. Dort wartet Franck (Vincent Cassel) auf die hübsch dotierte Ware und verpasst Simon den ebenso hübsch platzierten Schlag auf den Kopf. Der Raum dreht sich, die Erinnerung läuft aus, Leute spinnen, Fingernägel werden abgezogen. Kurzum: Die Boyle’sche Dynamik übersetzt den Kniff der fehlenden Erinnerung in ein nervöses Zappeln popkultureller Anklänge von Kon Satoshis wüst-filigranen Hieb auf das Unterbewusstsein, „Paprika“ (2006), bis zu Alfred Hitchcocks schwindeligem Trugbild „Vertigo“ (1958).

Bewusstsein ist das, was es nicht ist, und nicht das, was es ist!

Jean-Paul Sartre

Nicht die filmischen Versatzstücke eröffnen den Drehbuchautoren Joe Ahearne und John Hodge jedoch den tragenden Raum zur Ausgestaltung, sondern die Sartre’sche Existenzialidee aus „Das Sein und das Nichts“, die das Gedächtnis als kreative Macht versteht, Erfahrungen zu rekonstruieren, statt sie nachzuahmen und zu wiederholen. Besonders tragend formuliert Boyle das Konzept des freien Willens: Das Gedächtnis nämlich kann das Bewusstsein hemmen und stören, um jede Unabhängigkeit einzudämmen. So fordert Simons wiederholter Ruf „Ich habe einen freien Willen“ nur eine Antwort auf die Frage ein, ob die Last des Gedächtnisses überhaupt Freiheit zulässt. Die hinzugeholte Hypnotiseurin Elizabeth (Rosario Dawson) sieht in Simons Amnesie eine Entscheidung seines Unterbewusstseins die Realität aus purer Angst zu verlassen. In einer der Schlüsselszenen erklärt sie Franck, unser Gedächtnis definiere die Bausteine unseres Selbst. Wer sind wir? Unser Gedächtnis ist es, welches uns immer und immer wieder erschafft und an die Sicherheit unserer Existenz erinnert.

Die einzig relevante Frage in diesem Kontext ist dennoch: Erhält ein Handlungsgerüst einen spürbaren Freiraum, indem es von traditionellen Erzählweisen abschwenkt und eine Ästhetik der Science-Fiction bedient? Zumindest Ahearne spürt den aufgeblasenen Schwingen aus Traum und virtueller Realität seit dem Jahr 1994 hinterher, als er den Grundstein zu „Trance“ legte und das damals noch versifft-rotzende Kino des Danny Boyle mit „Kleine Morde unter Freunden“ einen herrlich wummernden Anbeginn erfuhr. Fernab der leisen psychogenen Fugen von Ahearnes identisch betitelten Fernsehfilm „Trance“ (2001) streut Boyle nun den Noir in die halluzinogene Mogelpackung: Neben Antiheld und Femme fatale, Amnesie und unzuverlässigem Erzähler, poltert zudem Dauer-Kollaborateur Anthony Dod Mantle mit Verve in die neon-getünchte Plastikwelt.

Ertränkten die kleinbürgerlichen Abziehbilder „Trainspotting“ (1996) und „Lebe lieber ungewöhnlich“ (1997) die Trostlosigkeit in Drogeneskapaden und hoffnungsfroher Amoral, erweitert Danny Boyle das Schreckenskabinett des Ekels in „Trance“ mittels durchsiebter Genitalien und nicht nur im übertragenen Sinne kopfloser Mobster. Dabei hängt die Kamera unentwegt fürchterlich schräg, und das spitz zurückgeworfene Licht der Glasfronten flirrt der eigenen bedeutungslosen Symbolik entgegen, die Boyle mit schwangerer Melodramatik in den üblich rauschhaften Ästhetizismus überführt. Das Kalkül hinter dem anfänglichen Minimalismus ist simpel, wie ein Boyle häufiger ist, aber leider auch dümmlich dreist, wie ein Boyle zugegeben seltener ist. Die Staffage namens Handlung möchte nämlich keineswegs den Irrgarten der menschlichen Psyche beleuchten, die ein Schlag auf den Hinterkopf nachhaltig provoziert, sondern ein Puzzle aus fehlenden Teilen stricken, die nie existierten.

Just, da Boyle die Leinwand seines roten Herings in unförmige Würfel explodieren lässt und ohne Belang Surrealismus gegen Expressionismus tauscht, trudeln Simon, Franck und Elizabeth in einen Kegel, der ihre Verhaltensweisen endgültig von den eingenommenen Charakteren und geforderter Empathie löst. An der Wurzel sitzt ein unangenehmer, exotisch wirkender, doch überkandierter Fleck, der sich Neo-Noir nennt und den Danny Boyle aufreiht – neben Bollywood-esker Schnulze („Slumdog Millionär“), verkopfter Science-Fiction-Odyssee („Sunshine“) und instinktiver Überlebensphilosophie („127 Hours“).

Ein Film kreiert seine eigene Welt, nach eigenen Regeln und in eigener Sprache. Doch brechen sollte er nicht das Firmament, auf dem er seine Charaktere errichtete. Denn eine Welt, die wie in „Trance“ den eigenen Regeln weder hörig, noch unterwürfig ist, spukt schließlich nur ein Credo aus: Hypnose ist die Kunst Dummes an Dummen vorbei zu reden.

Meinungen

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