Eine Made zieht ihre Kreise – fließt durch den Organismus, der für sie Heimat bedeutet und wandert in sehnigen Bahnen vom Schlüsselbein hinunter in die Waden. Währenddessen erwacht der Wirt, blickt zunächst wirr, darauf panisch den Bewegungen des Parasiten hinterher. In beinahe kühlen, elastischen Zügen entfaltet Shane Carruth dieses Szenario von Opfer und Peiniger. Ihre Handlungen bedingen einander, doch die folgenden Wirrungen schlagen der gepeinigten Kris (Amy Seimetz) mehr noch entgegen, als es dieser längliche Triebtäter könnte. Sie stellt Fragen, wir stellen sie; aber jedes Vorwissen bleibt im Vagen. Mit welchem Wissen können wir überhaupt einem Film begegnen, der fremd jeder Einwirkung des Bekannten oder bereits Gewussten ist? Der nicht empor schnellt, sondern Fragen formt, für die es keine provisorischen Antworten gibt; der einen Zwischenraum bedient, so selten, so unverhofft im heutigen Kino, dass es wirkt wie eine Konfrontation mit einem Geist. „Upstream Color“ ist ein ungewöhnliches Produkt, vor allem aber eines ohne Verfallsdatum.

Es gibt zwei herannahende Armeen: Hunger und Müdigkeit, doch eine starke Mauer hält sie in Schach.

Der Dieb (Thiago Martins)

Am Ehesten zu fassen ist Carruths Zweitling, wenn wir ihn stringent aus der Perspektive seiner beiden Protagonisten betrachten. Nach einer Reihe eigenartiger Experimente erlebt Kris eine Leere in ihrer Umgebung, versäumt die Arbeit und all das, was wir als Sozialleben ausgeben. Sie trifft Jeff (ebenso schauspielerisch tätig: Shane Carruth), der offensichtlich dieselbe Prozedur über sich ergehen ließ. Gemeinsam versuchen sie ihre verschwommene Vergangenheit zu dechiffrieren und die Puzzleteile ihrer Erinnerungen langsam zusammenzufügen. In manch anderem Projekt hätten Regie oder Drehbuch nun versucht aus dem bislang vielleicht noch experimentellen ein weltliches Element zu formulieren: Erst die Träume im Horror platzen lassen, danach die heile Welt wiederbeleben und schließlich mit Pathos unterfüttern. Um dieser Misere zu entgehen wählt Carruth in „Upstream Color“ die reine Magersucht. Gleich seiner augenscheinlichen Vorbilder Terrence Malick und David Lynch versucht er sich an einer Gegenerzählung, die nicht recht weiß, was zu erzählen ist und was bleibt bis zur Unkenntlichkeit aufbauscht. Hier spaltet der Film – wird der Eine noch dieses äußerst fremde Gefühl lieben, schnauft der Nächste bemüht dem Ende entgegen.

Die Wahrheit liegt dennoch nicht mittendrin. Wenn Carruth Reiz und Instinkt über das logische Konstrukt einer Handlung stellt, dann allein, weil es „Upstream Color“ auf filmischer Ebene voranbringt. Diese Geschichte chronologisch ohne das Rätselhafte zu erzählen, hieße auch: sich der Kunst verweigern. Im Debüt „Primer“ funktionierte das noch wenig bis überschaubar. Schien die Zeitreisethematik überambitioniert und unnötig komplex, störte dazu der fast undurchdringbare Genre-Jargon – ganz zu Schweigen von der Kälte einer Low-Budget-Produktion. „Upstream Color“ ist anstrengend, flüchtig, springt überheblich mit unserem Bewusstsein um – gleichzeitig ist er eine nachhaltige Erfahrung. Zu einer anderen Zeit hätte niemand gewagt einen Parasiten aus dem menschlichen Körper in ein Schwein zu überführen, und selbst wenn: Es wäre wohl nicht gezeigt worden. Die angeschnittenen Thematiken sind so schlicht, wie sie mächtig sind. Von Henry David Thoreaus „Walden oder Leben in den Wäldern“ bis zu den Einflüssen der Emergenztheorie punktiert Carruth gekonnt den Konflikt Stadt gegen Land, Mensch gegen Natur, Schweinestall gegen Wolkenkratzer und fragt: Wie überleben wir in solch einer irren Welt, in der jede Technologie die soziale Kommunikation weiter abebben lässt?

Wir müssen lernen, wieder wach zu werden und uns wach zu erhalten, nicht durch mechanische Mittel, sondern durch das unaufhörlich Erwarten des Sonnenaufgangs, welches uns nicht verlassen darf im tiefsten Schlaf.

Henry David Thoreau: „Walden oder Leben in den Wäldern“

Wirkt das erste Drittel noch wirr und undurchschaubar, ist selbst dort eine emotionale Zugänglichkeit spürbar – ein warmer Kern, der Carruth als Vermesser des menschlichen Verhaltens kennzeichnet. Während seine elliptische Struktur beiläufig zwischen Täuschung, Romanze und einer Schar Schweine wechselt, schlägt „Upstream Color“ in der Beziehung von Jeff und Kris eine überraschende Saite an: Ihre Liebe ist mehr ein Konzept zur Selbstfindung, als eine des harmonischen Beieinanders. Dieser Film vertraut schließlich auf seine eigenen Methoden. Emotionen formieren sich fast ausschließlich durch eine Ansammlung von Bild und Ton, die in traumhaften Schnittfolgen auf einen raffinierten Aufbau prallen. Inmitten weltlicher Anmut und abstrakter Zusammenhänge steht der Zyklus des Lebens. Dort durchdringt die einzige Sehnsucht, nämlich die nach Bindung, eine lyrische Erhabenheit; und das Lückenhafte in Carruths fieberhafter Blaupause wird zum Wunder. Es bleibt uns überlassen die erzählerischen Fragmente und Bilder aus ihrem Kontext zu entziffern.

Wo andere gerne scheitern, brilliert Carruth. Als Inbegriff des modernen Auteurs kontrolliert er nicht nur Regie und Schauspiel, sondern fungiert ebenso als Drehbuchautor, Produzent, Bildgestalter, Komponist und Cutter. Mit gottähnlicher Kontrolle, die schon den Versuchspersonen anhaftet, stiehlt sich Carruth als Schöpfer und Untersucher einer einzigartigen filmischen Welt davon. Indem „Upstream Color“ sich selten als gefällig oder originell wahrnimmt, wirkt er wie pures Kino; ein Tor zu einer bekannten, aber neuartigen Erzähltechnik, die auf ihre Weise funktioniert.

Meinungen

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