Glatter, lauter, effektgeladener … geistloser. So kommt das heutige Kino leider allzu oft daher. Mit Effekthascherei wird versucht, das Publikum von einer nicht-existenten oder aus uralten Versatzstücken zusammengeschusterten Story abzulenken. Der Übergang zum digitalen Filmemachen bringt – neben unbestreitbaren Produktions- und finanziellen Vorteilen – in inhaltlichen Belangen auch häufig ein Absacken ins Mittelmäßige mit sich. Einer, der sich mit den neueren Entwicklungen des Films wenig anfreunden kann, ist der recht junge spanische Regisseur Pablo Berger. Als großer Idealist und Analog-Fetischist hat er sein neuestes Werk auf Negativfilm produziert und ist damit in bester Gesellschaft; drehten doch auch Regie-Hochkaliber wie Paul Thomas Anderson und Christopher Nolan ihre neuesten Filme weiterhin auf Film. „Blancanieves“ ist allerdings nicht nur eine Rückbesinnung an die Freuden des körnigen, auf so wunderschöne Weise „unperfekten“ Films auf 16mm, sondern auch an die Anfangstage des Kinos überhaupt: Es handelt sich nämlich um einen 104-minütigen Schwarz-Weiß-Stummfilm. Statt anstrengend und langweilig zu enden, entsteht eine äußerst kurzweilige und stimmige Arthaus-Perle; was sicherlich auch dem Drehbuch und den durchwegs toll aufspielenden Akteuren geschuldet ist.

Die an sich uralte Geschichte des grimmschen Märchens wird in die Kulisse eines Sevillas der zwanziger Jahre verfrachtet und durch die Einbettung in das Stierkampfmilieu so weit verfremdet, dass sie nur noch in Ansätzen wiederzuerkennen ist. Da ist die garstige, boshafte Stiefmutter Encarna, brillant verkörpert durch Maribel Verdú, die in der Giftigkeit der Rolle richtig aufzugehen scheint. Hier der schwache Vater Antonio Villalta (Daniel Giménez Cacho), ein ehemals erfolgreicher Stierkämpfer, der nun jedoch durch einen Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist. Die Mutter starb bereits bei der Geburt seines Kindes, dem aufgeweckten Mädchen Carmen (zunächst: Sofía Oria, später: Macarena García), welches schließlich, nach dem Tod des Vaters, der Missgunst der bösen Stiefmutter schutzlos ausgeliefert ist. Anstatt eines Spiegleins verlässt sich die Stiefmutter auf die regionalen Mode- und Lifestylemagazine, um über ihren Status als „die Schönste im Land“ auf dem Laufenden zu bleiben. Mit zunehmendem Alter ist die hübsche, zum Dienstmädchen im eigenen Haus degradierte Carmen dabei, ihr den Rang abzulaufen. Nach einem gescheiterten Mordversuch kann sich das Mädchen aber retten, indem sie sich einer durchs Land ziehenden Stierkampf- und Kuriositätentruppe Kleinwüchsiger anschließt.

Zwar hält die Handlung in groben Zügen an den einzelnen Stationen der Märchenvorlage fest, gewinnt dieser jedoch neue, spannende, psychologische Facetten ab und haucht der alten, ausgezehrten Geschichte durch einen völlig anderen Kontext wieder neues Leben ein. Die Einbettung des Schneewittchen-Stoffs in die andalusische Region zu Beginn des 20. Jahrhunderts funktioniert überraschend und bemerkenswert reibungslos.

Auch in puncto Produktion gibt es an Bergers kleinem Meisterwerk kaum etwas auszusetzen. Die Sets und Kostüme sind ein Fest für die Augen. Aufwendig und detailversessen setzt die gesamte Optik des Films diesen Trend fort. Gedreht wurde auf Kodak Farbfilm, welcher hinterher in der Post-Produktionsphase zum Schwarz-Weiß-Farbspektrum entsättigt wurde. Das Ergebnis ist rein visuell ein Traum, ein Fest für die Sinne. Unter großen Mühen wurden Optik und auch Ton des klassischen Stummfilms reproduziert: von den frischen Schwarz-Weiß-Tönen, über den orchestral eingespielten Soundtrack, bis hin zum 1.33:1 Bildformat. Berger entleiht sich die Bildausdruckstechniken des filmischen Erzählens der zwanziger Jahre, bedient sich aber zugleich auch dezent neuester Filmtechniken, um der Produktion das gewisse Extra zu verleihen. Der Film, der auch deutlich expressionistische Züge aufweist, ist von beeindruckender Ästhetik: Allein Kraft visueller Mittel wird eine dunkle und magische Atmosphäre geschaffen, welche die ideale Ergänzung für die düstere, teils schräge Geschichte darstellt. Die schauspielerische Besetzung, der ihre Rollen durchweg auf den Leib geschneidert zu sein scheinen, leistet noch das Übrige, um die zauberhafte Welt dieses „Spanischen Schneewittchens“ zum Leben zu erwecken.

Kritisch ist lediglich die Eindimensionalität der Figuren anzuprangern. Zwischen Gut und Böse sind die Grenzen im Blancanieves’schen Universum recht klar gezogen. Es ist eine Welt in Schwarz und Weiß, Grautöne kommen nur äußerst selten zum Tragen; aber das liegt auch in der Natur eines Märchens. Es sind einfache, direkte Geschichten und dennoch, oder gerade deshalb, haben sie zumeist Tiefenwirkung. Zweifellos ist jedoch ein gewisser Kitschfaktor dem Film nicht vollends abzusprechen. Das Happy End ist Pflicht, das diktiert schließlich schon die grimmsche Vorlage. Schön wäre hier ein gezieltes Abweichen vom Märchendogma gewesen, als Schockeffekt zum Schluss, aber immerhin lockert der allgegenwärtige tiefschwarze Humor die Sache etwas auf.

Dennoch bleibt „Blancanieves“ ein äußerst sehenswerter Film, der nicht bloß geistloses Entertainment aus der Konserve bietet, und auch nicht nur eine einfache Hommage oder inspirationslose Persiflage darstellt. Nein, Pablo Berger gelingt hiermit ein Werk, das, ganz im Geiste des Kinos in seiner Anfangszeit, einfach ist und dennoch bewegend, stilistisch und thematisch steif daherkommt und doch mitreißend und authentisch wirkt – nicht ein leeres Stilexperiment, sondern Film wie Film sein sollte: zeitlos, eigenwillig, schön.

Bedenkt man, dass „Blancanieves“ erst Bergers zweiter Langfilm ist, darf man umso gespannter sein, was der Regisseur als Nächstes aus dem Hut zaubern wird. Mit seinem aktuellen Film hat er es jedenfalls schon weit gebracht: „Blancanieves“ ist von Spanien als Beitrag für den Wettbewerb um die Auszeichnung als „Bester fremdsprachiger Film“ zu den 85. Academy Awards eingereicht worden. Dennoch sitzt bei all dem Erfolg der Dorn einer bestimmten Niederlage immer noch tief: Auf Michel Hazanavicius’ „The Artist“, eine französische Hommage an die Ära des Stummfilms und die Stummfilmindustrie Hollywoods, sollte man den leidenschaftlichen Basken lieber nicht ansprechen. Acht Jahre lang bereitete Berger sein Projekt vor, bevor es ihm möglich war zu drehen. Doch dann kam ihm Hazanavicius – wegen Problemen mit der Finanzierung eines solch ungewöhnlichen, aufwendigen Filmprojektes – bei der Wiederbelebung des tot geglaubten Stummfilm-Genres zuvor.

Berechtigterweise gehen ihm daher die nun beständigen Vergleiche und Fragen, ob er denn von „The Artist“ inspiriert worden sei, stark auf die Nerven. Aus seinem Statement bei einer Diskussion im Rahmen des Münchner Filmfests lässt sich sein Groll gegen besagten Film nur zu gut herauslesen: „They had a dog. We have a rooster!“ („Sie hatten einen Hund! Wir haben ein Huhn!“) Dabei bräuchte Berger sich eigentlich gar nicht zu scheuen vor Vergleichen: Anders als bei „The Artist“ ist in seinem Werk die Ästhetik der Stummfilmkinos mit ihren Spruchtafeln, Zitaten, der Kraft des visuellen Ausdrucks und der Musik nämlich kein Selbstzweck, der allein der Hommage an das Kino der alten Tage dient, sondern ein Mittel um eine zeitlose Geschichte neu zu erzählen.

Meinungen

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