In John Crowleys „Boy A“ ist die Einsamkeit absolut, als in der steingrauen Trostlosigkeit Englands die Grundwerte des Lebens ruiniert werden, kein Kind mehr auf Spielplätzen tollt und die Sonne unentwegt ihr Gesicht auf dürres Gras wirft und aufgeplatzte Straßen. Industrie und Wahnsinn. Schwer schaffende Arbeiterväter, die des Nachmittags Whiskey leeren; willenlose Mütter und Kinder – die reinen Kinder –, ohne Heimat, aber ebenso wenig Schmerz. Die Einsamkeit ist total. In Eric Wilson (Alfie Owen), einem Sohn aus schlechten Verhältnissen, die man ihm gerne angedichtet hätte, wenn sie nicht beständig wären. Der ein Prädikat und einen Namen für immer mit sich trägt: das Böse, meint der Richter bei der Verhandlung, die Erics Leben bezeichnet – nicht sein weiteres, sein bisheriges sogleich –, das Böse müsse für immer verbannt werden. Das Böse ist Boy A, und er ist ein makelloses Beweisstück für die Perspektivlosigkeit der Jugend.

Dann ist es wie immer. Der Junge, der nun Jack Burridge (Andrew Garfield) heißt, lebt bei einer gutmütigen Dame, arbeitet als Kurierfahrer ohne Verantwortung, hat bald ein Mädchen, erste Freunde. Resozialisierung nennt man es. Nur die Gesellschaft will davon nichts wissen. Die Tat vor etlichen Jahren buddeln die Journalisten und Klatschblätter in perfider Freude aus, um den Tagesablauf des bornierten Volkes ein wenig aufzufrischen. Als Jack noch Eric hieß, berühren seine Schuhe kaum den bloßen Boden des Gerichtsaales. Die Kamera schwingt ruhig hinter die Rücken der zwei Jungen, verhakt in ausdruckslose Gesichter, ohne Schuld, Einsicht, Bedenken – frei und gleich. Später erst, da scheint Eric die Eskalation endlich spüren zu wollen, als er von den Eltern weggerissen wird und wild gestikulierend, mit den Beinen rudernd wie ein Ertrinkender, gegen die schiere Ungerechtigkeit anschreit. Dann ist es wieder Jack, der unruhig aus dem Schlaf weckt und sich die Stirn reiben muss. Der Traum hält auch in „Boy A“ nur kurz an. Das Surreale, aber leider Wirkliche, bricht umso später, umso wahrer herein.

Die Rückblende bedeutet auch in diesem Film nur Verklärung; das Licht ihrer nachrückenden Wahrheit lediglich Handwerk. Gewiss will das ein Film Noir sein – eine Art menschelnder Spannungskörper um die Veränderung im Geist, die mit der Gesellschaft kollidiert, sich eine „Coming of Age“-Dramatik schnappt und zerplatzen lässt. Auch wenn Crowley der Sterilisierung in roher Schwarz-Weiß-Ästhetik regelrecht erliegt, sie ihn manchmal erschlägt, wenn er Katie Lyons in die Rolle der Femme Fatale spannt, die den unbedarften und überforderten Jack mit Leichtigkeit verführt, selbst dann weiß das Stereotype im Kontext die Realität doch allzu gut von der Vergangenheit abzukapseln – als ob die Einfachheit einer britischen Fernsehproduktion seine geringen Mittel würdigt und überspannt in einem Zug. Beinahe irrt „Boy A“ sogar im selben traumhaften Schwebezustand zwischen Zeitlupen und Langsamkeit, die Gus Van Sant immer in Katharsisverweigerung unterdrückt – sogar in „Elephant“, dem Film, der um ein Highschool-Massaker durchgängig ruhig und bedächtig kreist, und die Psyche seiner Täter demontiert: in luftiges Nichts.

Manchmal wäre „Boy A“ eine weniger kleine Produktion mit unbedeutenden Darstellern, wäre lieber dem Zwang der letzten Konsequenz nie ausgesetzt, die ihn letzten Endes auch seine Besonderheit genommen hätte. Das er kein Ende findet, wie Crowley plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommt, ist ein Glück für uns und unser schmerzendes Herz. Da ist keine Befreiung und kein Wunder, nur aufgerissene Wunden und Ketten, die sich um die Körper des jungen Mannes schlingen und ihn in die Vergangenheit zerren. In John Crowleys „Boy A“ fungiert die Gegenwart als Katalysator des Alptraums. Dabei wähnen wir uns eher bei David Lynch, als Ken Loach. Warum auch immer das eine heilvoller als das andere sein sollte.

Meinungen

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