Richard Linklater gelingt mit „Boyhood“ etwas ganz Außergewöhnliches. Er drehte zwölf Jahre lang jährlich drei bis vier Tage mit demselben Schauspielerensemble und bietet dem Zuschauer somit die wohl authentischste und flüssigste Sicht auf die Chronologie einer Familie an, die es in der Filmgeschichte je gab. Olivia (Patricia Arquette) und Mason Sr. (Ethan Hawke) sind von Beginn der Erzählung an getrennt, ihre jungen Kinder Mason Jr. (Ellar Coltrane) und Samantha (Lorelei Linklater) wünschen sich das alte Elternpaar wieder zurück. Das 164 Minuten lange Drama, welches eine Inspiration für viele weitere Werke sein könnte, fokussiert den schwierigen Werdegang des Mason Jr.s in einer äußerst sensiblen Art und Weise. Es ist etwas Wunderbares, einen Menschen ohne wirklichen Bruch aufwachsen zu sehen, allein hierfür ist Linklater mit Lorbeeren zu ehren.

Seine eigentliche Meisterleistung besteht aber darin, dass er zu den einzelnen Jahren wiedererkennbaren Zeitgeist einfängt, sodass der Zuschauer, ohne dass er explizit durch Jahreszahlen darauf hingewiesen wird, in bestimmte Zeiten des eigenen Lebens zurückversetzt werden kann. Das fördert die Nostalgie oder zeigt, welche Erinnerungen nicht mehr wirklich präsent vor Augen schwebten, obwohl die erinnerten Zeiten nicht allzu lange vergangen sind. Wenn daher Samantha „Oops! … I did it again“ von Britney Spears singt, von Emos die Rede ist oder mit Wahlschildern von Obama und McCain geworben wird, weiß der Zuschauer Bescheid, und es macht dabei keinen Unterschied, ob man Amerikaner oder Europäer ist.

„Boyhood“ ist ein Film für fast jedes Alter, eine Studie des Lebens und des Erwachsenwerdens. In Jahrzehnten wird man den nächsten Generationen anhand dieses Films zeigen können, wie das 21. Jahrhundert begann und wie es sich angefühlt hat. Das ist außergewöhnlich. Gerade die Generation, die Anfang der Neunziger geboren ist, wird sich mit dem Werdegang der beiden Kinder identifizieren können, wobei Mason Jr.s Charakter dazu sicherlich mehr Potenzial erhält, weil er schlichtweg präziser gezeichnet und der eigentliche Protagonist ist. „Boyhood“ heißt der Film auch bezeichnend und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass männliche Zuschauer Linklaters Werk besser nachvollziehen können und finden.

Interessant ist hier allgemein das Sehverhalten der unterschiedlichen Gruppierungen. Pubertierende Jugendliche werden zeitgenössisch weniger angesprochen als Menschen, die sich in der Adoleszenz oder in reiferen Stadien des Lebens befinden. Dennoch haben sie einen Zugang, weil das Erwachsenwerden zeitlos ist wie der Film selbst. Vor allem aber wird „Boyhood“ Menschen ab vierzig gefallen, da die Beziehung von Arquette mit Hawke und seinen Nachfolgern sehr gut dargestellt wird. Ist eine Beziehung erfolglos, wenn man sich zwar trennt, aber zwei Kinder hinterlassen hat? Nahezu dokumentarisch im Stil werden die Familiengeschichten erzählt, niemals pathetisch oder übertrieben, sondern ganz unerwartet monoton, wie das Leben eben sein kann. Das ist vielleicht neben der erhöhten Authentizität gleichzeitig die einzige Schwäche im Gesamtkonstrukt, um wirklich alle Menschen dieser Welt zu befriedigen.

François Truffaut hatte einmal eine Idee, die Linklaters nicht unverwandt ist: Er drehte fünf Filme (vier Spielfilme und einen Kurzfilm) mit Beteiligung partiell gleicher Schauspieler, welche die autobiografische Geschichte vom Regisseur in einem Alter Ego erzählen. „Sie küssten und sie schlugen ihn“ aus dem Jahre 1958 war der erste Film des sogenannten Antoine-Doinel-Zyklus; Jean-Pierre Léaud verkörperte Doinel noch vier weitere Male bis 1978. Linklater bestätigte mir persönlich nach der Pressekonferenz auf der Berlinale, dass Truffaut einen großen Einfluss auf ihn habe. Allgemein kann man in seinen Werken immer wieder Parallelen zu Filmen aus der Nouvelle Vague erkennen, beispielsweise in „Waking Life“ zu „Letztes Jahr im Marienbad“ von Alain Resnais. Bereits in der Trilogie „Before Sunrise“ (1995), „Before Sunset“ (2004) und „Before Midnight“ (2013) sind die beiden Hauptdarsteller Ethan Hawke und Julie Delpy als Paar jeweils über die Jahre gemeinsam zu sehen.

Wie sehr Linklater autobiografische Elemente in „Boyhood“ einfließen hat lassen, kann man daran erkennen, mit welcher Sorgfalt er Details in allen Bereichen beschreibt. Gleichzeitig vereint er dies mit der natürlichen Entwicklung der Schauspieler, die in diesem über zwölf Jahre zusammenhängenden Film eine riesige Verantwortung trugen. Bemerkenswert ist die direkte Auswirkung auf Coltranes Entscheidungen im realen Leben, wie beispielsweise seinen Haarschnitt und seinen Umgang mit diesem streng geheim gehaltenen Werk, das wohl alle seine Mitmenschen seit 2002 ungeduldig erwarten. Deswegen war „Boyhood“ schon immer ein Art Geheimnis, ein Geheimnis der fiktiven Familie, die zu einer echten Familie wurde. Das macht dieses Projekt interessant, innovativ und so gut.

Meinungen

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