Es gibt eine Szene in Tim Burtons „Ed Wood“, da wird der transsexuelle Regisseur über seine Aufmerksamkeit zum Detail ausgefragt. „Und warum ist dann der Polizist bei Tageslicht angekommen und jetzt ist es schon dunkel?“, fragt ein Produzent. Da antwortet Wood: „Das weiß doch nun jeder: Irritationselemente steigern die Spannung!“

Der englische Wortlaut, den die deutsche Übersetzung zu rekonstruieren versucht, lautet „Suspension of Disbelief“ und würde am treffendsten noch in der „Aussetzung der Ungläubigkeit“ enden. Spannung durch Irritation aber – die bereitwillige Verführung eines Publikums durch Unwirklichkeit –, ist ein Konzept, dass noch immer die Auseinandersetzung in den Irrwegen sucht, wo Literatur, Film, Psychologie und Philosophie einander begegnen. „Suspension of Disbelief“ setzt eine unbewusste Verbindung zwischen Publikum und Film voraus, und während der Zuschauer den Film als Fiktion betrachtet, sollte er gleichzeitig eine Realität erschaffen, die den Suspense von der Unsicherheit der tatsächlichen Wahrheit befreit. Doch die Entwicklung, in dem das digitale Bildnis mit jedem Schritt wächst, schuf CGI: Plötzlich droht der Bund zu zerreißen und mit ihm die Herausforderung, Fleisch und Blut Pixelwesen zu überlassen.

Dabei sind Schwächen der Computer Generated Imagery in aller Deutlichkeit ersichtlich, besonders in den Fortsetzungen und Franchise-Erweiterungen, die mit Vorliebe traditionelle, noch physische Künste absprechen, um den Gleichsatz von Technik und Zukunft zu erreichen, wie es „King Kong“ und die digital durchsetzten Prequels der „Star Wars“-Reihe verdeutlichen. Diese Filme und viele weitere mit ihnen stehen exemplarisch für die unrealistisch glatte Perfektion, die unserem Erlebnis die Begrenzungen des technischen Fortschritts nahe legen. Daher entwirft CGI nicht nur einen anderen Grundsatz in der Darstellung von Realität, sondern verleugnet die Notwendigkeit des „Realen“ als stolze Künstlichkeit. Warum sollte ein Publikum in diesem Kontext mit großer Gefahr oder großem Schmerz überhaupt sympathisieren? In anderen Worten: Der Anbruch des CGI verändert unser Verhältnis mit dem Kino. Wo wir ehemals von den Leistungen mutiger Stuntmänner beeindruckt waren, entzückt von der Erfahrung echter Gefahr – wie auch immer sie konstruiert schien –, blockiert CGI den Raum aller Illusionen. Beide – Publikum und Filmmacher – sind sicher: sicher im Wissen, dass wir vor Leid geschützt sind. Sicher, aber beschränkt; sicher, aber gelangweilt.

Der Begriff „Suspension of Disbelief“ wurde von Samuel Taylor Coleridge in seiner Autobiographie „Biographie Literaria“ geprägt. Coleridge schrieb, dass ehemals veröffentlichte Arbeiten von ihm bemüht waren „Schatten der Einbildungskraft mit jener momenthaften willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit auszustatten, die ein Vertrauen in die Dichtung schafft.“ Während Coleridge mit Feder und Opiumpfeife versuchte, die Macht des Übernatürlichen zu beschwören, waren seine verfügbaren Mittel verschwindend gering gegenüber der ungeheuren Reichweite bewusstseinsverändernder Reize, die einem Filmmacher zur Verfügung stehen. Gemäß dem amerikanischen Philosophieprofessor Carl Plantinga – der ausführlich die Beziehung zwischen theoretischer Wahrnehmung und Film beschrieb –, öffnen die visuellen Künste eine kraftvolle Verbindung zum Unterbewusstsein, die einmalig ist.

Einer der Gründe, warum Film und Fernsehen ein so ausgezeichnetes Gefühl von Gefahr vermitteln können, ist, dass sie nicht mit Sprache, sondern Bildern und Tönen arbeiten. Sie greifen Wahrnehmungsprozesse des Zuschauers aus der realen Welt auf, die fest mit bestimmten Reaktionen verknüpft sind.
Beispielsweise die Schreckreaktion: Darwin sprach darüber, in einen Zoo zu gehen; er wusste, dass es eine Glasscheibe zwischen dem Otter und ihm gab, aber als der Otter gegen die Scheibe schlug, konnte er sich nicht helfen und zuckte zusammen. Filme nutzen den Vorteil dieser natürlichen Wahrnehmungsprozesse auf eine Weise, die in der Literatur unmöglich ist.

Das frühe Erzählkino – das den Schockzustand erreichte, indem es das Alltägliche so realistisch wie möglich darstellte –, entwickelte sich schnell auf der Suche nach körperlichem Nervenkitzel durch genau solche filmischen Otterschläge: Keaton, der verzweifelt versucht, einem fallenden Giebel zu entgehen; Harold Lloyd baumelnd an einer Uhr; oder die letzte Kameraeinstellung in „Der große Eisenbahnraub“ direkt auf das Publikum. Es darf behauptet werden, dass dieser Nutzen der filmischen Gefahr das angeborene primitive Verlangen des menschlichen Unterbewusstseins fortführt, wie Plantinga erklärt:

Viele Psychologen und Philosophen glauben, dass uns schon immer, seitdem wir „gebildet“ sind, die meiste Gefahr und angeborene Begeisterung des täglichen Lebens abhanden gekommen ist. Filme sind ein Weg, damit Menschen dieses Gefühl der Begeisterung in einer sehr sicheren Umgebung erleben können.

Plantinga räumt zwar ein, dass seine Freude am Film durch CGI häufig beeinträchtigt wird, betont aber wiederum, dass die Veranlagung, fiktive und sachliche Beiträge anzuerkennen, grundlegend vorhanden ist. Wenn eine Besserung der computergenerierten Bilder eintritt, neue Generationen ihre Besonderheiten kennen und lieben lernen, kann ihre Kraft – unser Verlangen nach Fiktion mit glaubhafter erzählerischer Natur zu vereinen –, ins Unermessliche steigen, selbst wenn sie niemals absolut realistisch sein wird.

Für mich ist es eine Frage, wie Realität wahrgenommen wird. Deswegen würde ich zwischen wahrgenommener und wirklicher Realität unterscheiden. Wahrgenommene Realität zwingt den Zuschauer lediglich, alles Sichtbare oder Nachgeahmte in einen Kontext zu stellen, der nahe an die Bilder und Töne außerhalb des Filmtheaters reicht. Es muss auf keine andere Weise real sein, als das es real erscheint. CGI wird eines Tages, wenn es perfektioniert wurde, ungemein kraftvoll diese Sichtweise unterstützen.

Eine gewisse Ironie ist es doch CGI als unwillkommenen Gast anzuprangern und gleichermaßen die Künste um Kostüm, Modellbau und das Stunt-Schauspiel zu besudeln. Immerhin bauen viele Filme auf Stunts und Effekten auf, die ebenso störend und unmotiviert sind, wie die Polizisten in „Ed Wood“ plötzlich von Tag zu Nacht wandern. Und doch – mit einem Blick auf „Hulk“ oder „Spiderman“ oder jedem anderen CGI-Festessen –, bleibt es ein berechtigter Einwand, den Gefahren einer digital animierten Darstellung geometrischer Daten eben mit wenig Interesse, wenig Hingabe und Identifikation beizuwohnen. Im Paragraph, der der Definition Coleridges von Vertrauen in Dichtung und die Aussetzung der Ungläubigkeit folgt, schreibt er in Lobeshymnen auf seinen Freund und Mitarbeiter William Wordsworth, dass er danach strebe, weitaus größere Anerkennung dessen erreichen zu wollen, was andernfalls banal oder weltlich erscheinen würde. Verfolgt Kino in seiner besten Form nicht genau dasselbe?

Die Aufmerksamkeit des Geistes von der Teilnahmslosigkeit des Gewöhnlichen befreien und sie zu der Schönheit und den Wundern der Welt um uns lenken; es ist ein unerschöpflicher Schatz, aber für den wir infolge des vertrauten Films und der eigennützigen Besorgnis Augen haben, die nicht sehen, Ohren, die nicht hören und Herzen, die weder fühlen, noch verstehen.

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