Der Morgen des 7. August 1974 war wie ein jeder Morgen in Lower Manhattan: alltäglich; genauso gewöhnlich wie der Morgen des 11. September 2001. Aber als wir an diesen zwei Morgen nach oben blickten – weit in den klaren, blauen Himmel, der sich in dem strahlenden Glas und Stahl der World-Trade-Center-Türme abzeichnete –, begann die Gewöhnlichkeit in 400 Metern Höhe Risse zu bekommen. Weil ein Mann dort auf einem Drahtseil zwischen den Bauten schwebte, über die Wolken tanzte, als würde er fliegen. Und ein Flugzeug flog – zu tief, zu nah, bis es verschwand und die strahlende Glas- und Stahlfacette ruinierte. James Marshs „Man on Wire“ mag nur die Geschichte einer dieser Tage rekonstruieren, zweifelsohne ruft er beide in Erinnerung. Denn um Philippe Petits legendären Drahtseilakt im Jahre 1974 zu feiern, überhaupt feiern zu können, müssen wir die Erinnerung an das World Trade Center lösen von der Gewalt, die 2001 über es strömte. James Marsh und Philippe Petit fordern Erschaffung aus Destruktion, und obwohl „Man on Wire“ niemals ein Wort über den 11. September verliert, es ist gleichwohl ein Akt herrlicher Trotzigkeit. Eine fesselnde Geschichte ist es ohnehin.

Sie beginnt 1968, als der gerade achtzehnjährige Philippe Petit ein Dasein auf den Pariser Straßen fristet und bei einem Zahnarztbesuch einen Artikel entdeckt über die Zwillingstürme, die alsbald in New York entstehen sollen. Bei ihrer Fertigstellung 1973 sollten sie die höchsten Türme der Welt sein. Er ist inspiriert, plant mit seinen Freunden die Inszenierung einer einmaligen Drahtseilattraktion. Naiv, einfältig, wie es nur Jugendliche sein können, stellen sie sich der monströsen Herausforderung: Erst müssen sie in die Türme mit ihrer Ausrüstung einbrechen, 110 Stockwerke erklimmen, das Kabel von einem Turm auf den anderen hieven, montieren und schließlich … laufen. Leave me be, I’m just walkin’ this line. In einer genialen Eingebung erkannte Marsh, dass er Petits Geschichte nicht einfach als herkömmlichen Dokumentarfilm verfilmen konnte; es ist ein Heist-Movie – und er dreht ihn wie einen. Unter Einsatz von Rekonstruktionen, Originalmaterial der Protagonisten sowie Interviews wird „Man on Wire“ lebendig. Im Mittelpunkt des Ganzen steht Petit; ein verschmitzter Exzentriker, der eine feinfühlig gesteuerte Aufführung bietet. Sechs Jahre Vorbereitung kosten es ihn, das Projekt in die Tat umzusetzen und selbst dann: der Plan – ein Witz.

Ich kannte die Art des Seiles nicht, ich kannte nicht die Art des Knotens, ich wusste nicht, wie ich es spannen sollte. Wenn ich heute darüber nachdenke, ist es lachhaft.

Er ist ein faszinierender Charakter – ein Künstler, der einen Funken Menschlichkeit auf ein monumentales Landschaftsbild überträgt. Aber wenn „Man on Wire“ eine Schwäche besitzt, dann ist es Marshs Unvermögen ihn festzunageln und zur Verantwortung zu ziehen. In seinem eigenen Denken ist Petit ein dramatischer Held, aber es gibt Andeutungen von Wahnsinn, Selbstsucht und Manipulation. Nicht nur bezeichnet er das World Trade Center als „seinen“ Turm, er tadelt auch den Verrat all jener, die ihn im Stich ließen. Aber es war Petit selbst, der den schlimmsten Verrat beging, als er vom World Trade Center als weltweit verehrte Ikone zurückkehrte, nur um seine Frau zu betrügen und seine Freunde wegzuwerfen. Marsh, verführt von Petits unwiderstehlicher Sicht der Dinge, entlässt ihn unter selbstgerechtem Imponiergehabe aus der Verantwortung. Und doch: Petit ist verführerisch. Seine Zeit auf dem Drahtseil ist ein beinahe befremdliches Beispiel für die übernatürliche Macht des Films. Es ist, in gewisser Hinsicht, eine Ode an die Jugend – an eine unschuldige Zeit, als die Dinge noch einfacher waren, und das Unmögliche in Sicht. Dort oben auf dem Drahtseil, auf den Fotografien, gefriert um Petit die Zeit; unsterblich, ein Magnet für unser kulturelles Gedächtnis.

Aber in diesen Momenten verstrickt Marsh das Majestätische mit dem Alltäglichen vorzüglich. Trotz alledem besitzt er ein gutes Gespür für das Theater in diesem weltfremden Traum, er versteht die Absurdität dieser vermeintlichen Kriminellen, die in ihrer Handlung umhertasten. Der Film ist oftmals genauso aberwitzig wie er inspirierend ist, besonders im Kontrast dieser französischen Poeten, die die Türme erobern und jenen amerikanischen Ordnungshütern, die Petit schnurstracks zum Psychiater schleifen, sobald er wieder Boden unter den Füßen hat. Vielleicht beabsichtigte Marsh „Man on Wire“ nie als großartige Stellungnahme. Immerhin ist er ein Geschichtenerzähler. Aber indem er diese Geschichte erzählt – mit all diesem Humor, dem Herzen und der Menschlichkeit – erreicht er etwas wesentlich Größeres. „Man on Wire“ ermöglicht uns Freude an der Geschichte des World Trade Centers zu empfinden. Und wenn das ein noch so einfacher Akt des Gedenkens ist, es ist einer, der tiefgreifende und reinigende Konsequenzen mit sich bringt.

Meinungen

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