Am Himmel glitzern die Sterne, auf Erden die gestärkten Hemden junger Studenten. Doch neben all den Pärchen, deren Schritte einander leichtfüßig umkreisen, blicken am Rande eines Pagodenzelts auch zwei Menschen umher, die völlig stillstehen – wie es auch die Physik zu jener Zeit tat, in den frühen sechziger Jahren. Eine Zeit, in der ein Mann eine Frau beeindrucken konnte, indem er völlig banales Wissen bewies. Eben so wie das Wissen um die vom Waschmittel fluoreszierenden Hemden der tanzenden Studenten. Der Mann ist Naturwissenschaftler, die Frau Geisteswissenschaftlerin; er wird in theoretischer Astronomie und Kosmologie promovieren, sie in mittelalterlicher spanischer Literatur. Er ist Atheist, sie Katholikin. Was sie zusammenführt, ist eine Anziehung über ihre jeweiligen Gegensätzlichkeiten hinweg – etwas, was sich in wenigen filmischen Aspekten gerne als Liebe auf den ersten Blick inszenieren lässt; kinematografisch satt, in elegischer Perforation unter Jóhann Jóhannssons Streicher- und Pianoelementen. Weil es mit der Liebe jedoch auch im Film immer eine kniffelige Angelegenheit ist, stellt man bei dem Mann eine Diagnose fest, derer er sich nicht entziehen kann. Denn dieser Mann heißt schließlich Stephen Hawking. Aber James Marshs „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ ist entgegen Philip Martins „Hawking – Die Suche nach dem Anfang der Zeit“ aus dem Jahr 2004 nicht allein sein Film: sondern ein Produkt zweier Individuen und ihrer gemeinsamen Fallstricke.

In diesem abstrakten Sinne meint der Titel auch eine (nicht nur mathematische) Theorie, die es auszuführen gilt – über Thesen, die sich immerfort in elliptischen Treppen von Universitätsgebäuden, im Kaffee und im Bierschaum finden, im alltäglichen Konstrukt, welches die Welt dieser zwei Menschen bestimmt. Natürlich definiert Hawkings degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die Beziehung zu dieser Frau, die Beziehung zu der Romanistin Jane Wilde. Natürlich kann, will und muss auch ein Film den stetigen, rein physischen Mobilitätsverlust zwingend ausführen, natürlich zeigen, welche Hürden existieren: in der Kommunikation, im Neben-, Bei- und Miteinander. Mit der Familie, mit Freunden, im Alltags- und Privatleben. In der baldigen Sprachlosigkeit. James Marsh aber öffnet sich den Krankheitsschüben mittels eines seltsamen Minimalismus, manchmal sogar unkonkret bis zum nicht mehr strikt Visualisierbaren. Stattdessen tropft seine Finesse für die biografische Schnelllebigkeit des Genres (hier nun werden glatt dreißig Jahre bewältigt) ab von Zwangsstätten, sogar ab von der Forschung, der Physik, Mathematik. Aber auch ab von Stephen Hawking, dessen Bindung zu Jane sich zunächst in einer wissenschaftlichen Kontinuität ausdrückt. Mit Kitsch und Träumereien hatte dies vermutlich auch in der Realität wenig gemein (siehe dazu auch Jane Hawkings Autobiografie „Music to Move the Stars: A Life with Stephen“, die 1999 erschien und deren gekürzte – aber auch harmlosere, weil weniger echauffierte – Fassung Eckpfeiler für Anthony McCartens Drehbuch ist).

Die Mathematik beziehungsweise deren Formalismus ist es jedoch, welche dem Film eine einzigartige, gewiss auch eigenartige Faszination verleiht, weil sie eine stellenweise unscheinbare Komponente bleibt, wo doch fortwährend die großen Fragen des Lebens im Vordergrund stehen (sollen). Gerade, als die Kommunikation beider noch ohne Zweifel oder Ängste möglich ist, konstruiert der Film Dialoge, welche in ihrer bewussten Abkehr jedweder Redundanz ein Vorspiel auf die kommende Unfähigkeit zur Artikulation bilden. Jeder Satz scheint gleichzeitig ein sorgsam redigierter mathematischer Beweis zu sein. Stephen, der Familienmensch, der dies niemals aktiv sein kann; Jane, die Hausfrau, die dies niemals sein wollte. Sie umsorgt, er dankt. Möglich, dass „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ an genau diesem emotional stummen Bruch krankt, den es in Hawkings eigener Biografie nun einmal gibt: Schließlich sollte er nach seiner Diagnose im Alter von 21 Jahren lediglich noch zwei Jahre leben. Die Beziehung verlieh ihm Eifer, Mut, Energie, brachte ihm drei Kinder – und bis zum heutigen Tag mindestens fünfzig weitere Jahre. So lässt sich ebenso der Atem des Films dechiffrieren, der zunächst zärtlich ungestüm, später bedächtig faserig wirkt, als die Liebe zwischen Stephen und Jane splittert und alle Sprachhilfsmittel (selbst in Form einer Computerstimme) scheitern. Irgendwann sehen beide ein, dass ihre Liebe auf Zeit keine weitere Zeit mehr überdauert. Und sie wechseln ihren Partner wie der Film seine Sprache.

Dort flüchtet James Marsh letztlich in einen naturalistischen Stil, statt des zuvor romantisch-sensiblen Spiels mit seinen formidablen Hauptdarstellern, Eddie Redmayne und Felicity Jones, die eine Eleganz beschwören, welche sich später nur noch in Hektik und illusorischer Originalität zeigt. Jene folgenden unruhigen Dreieckskonstellationen – zunächst zwischen Jane und dem Kantor und Klavierlehrer Jonathan Hellyer Jones (Charlie Cox), später zwischen Stephen und seiner Pflegerin Elaine Mason (Maxine Peake) – winden sich um das, was im Kopf dieser Figuren geschieht, doch im Verlauf schlicht außen vor bleibt. „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ ist darin auch ein Film über die Grenzen des filmisch Darstellbaren. Ein schwarzes Loch, das für eine prägnante Analyse erst eine umfassende, noch nicht bewiesene Theorie benötigen würde.

Meinungen

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