Frederick Wisemans nunmehr 38. institutionell bestimmter, über vierstündiger Dokumentarfilm „At Berkeley“ ist ein mahnend schlingerndes Manifest seines Regisseurs wie ebenso eine Studie demokratischen Denkens und Demonstration freier Bildung für jeden inmitten der staatlichen University of California in Berkeley. Entgegen des anderswo zeitgenössisch-dokumentarischen Brimboriums um schwebende Köpfe, ausführliche und -führende Texttafeln, Untertitel und eine immanente Geisterstimme aus dem Off ruckelt „At Berkeley“ nicht (typisch Wiseman), er fließt in manchmal endlosen Einstellungen dahin und durch das Alltagsleben der Universität. Was bedeutet: Wir sehen Proteste, Debatten, Seminare, Studenten, Theateraufführungen und Hierarchien beinahe ungefiltert, jedoch niemals manipuliert. Was wir dagegen nicht sehen: Frederick Wiseman selbst. Dieser überlässt es allein dem Zuschauer, aus den Komplexitäten unzähliger Hochschulvorgänge eine eigene aphrodisierte Meinung beziehungsweise Interpretation zu schürfen, welche schließlich auch unabdingbar den Geist und die Lebenserfahrung seines Regisseurs atmet. So kreiert Wiseman irgendwann eher eine Choreografie, denn einen rein im Nachhinein montierten Rhythmus.

„At Berkeley“ kapselt sich zudem völlig von der dramaturgisch fingierten (obwohl gleichsam erheiternden) Sperenzienwollust à la „Man on Wire“ (James Marsh, 2008) und „Der Blender – The Imposter“ (Bart Layton, 2012) ab und fördert dagegen eine Art informativen Debattierklub im Stile von Wisemans Lehranstaltsmausoleen „High School“ (1968) und „High School II“ (1994). Die Überhöhung bedeutet ihm nichts, da seine präsentierte (filmische) Realität wiederum die Zeit einschließt und im selben Augenblick minimal rekonstruiert zurückgibt. Somit kalkuliert hier natürlich nicht der Schnitt die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit den Schnitt. Daraus folgt eine offene Dynamik: Zum einen kämpft die Universität infolge immer geringer werdender staatlicher Subventionen um ihre Ideologie, allen Schichten und Minderheiten ein Studium zu ermöglichen; zum anderen ist ihr hoher wissenschaftlicher Standard ohne Studiengebühren vielleicht nicht mehr zu erhalten. Über vier Stunden folgt Wiseman so der Frage nach ethischen und moralischen Argumenten über den Mikrokosmus Universität. Das wirkt teilweise demotivierend lang und überbordend. Es fühlt sich allerdings gleichzeitig an, als ob wir uns unaufgezwungen Wissen aneignen. Und in diesen Momenten ist „At Berkeley“ ganz und gar wundervoll spirituell.

Meinungen

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