Er hat sich ein Jugendgericht vorgenommen, er hat sich dem Tod in einem Krankenhaus angenommen, die Polizei begleitet, Berkeley besucht, eine Highschool bereist und mit seinem Finger der Kamera auf die Wirkmaschinerie der Demokratie verwiesen. Frederick Wiseman ist seit den Sechzigern der zerteilende Hofberichterstatter, der stumme Begleiter und der institutionelle Epochenerzähler Amerikas: unpersönlich, aber neugierig genug, zu lernen anhand des Sehens. Was John Ford zu einem umschwärmenden, abstrakten Legendenjäger machte, macht Frederick Wiseman zu dessen vernunftgemäßem, wirklichkeitsgetreuem Spiegelbild, ein dokumentarisches Landes- und Sittenmosaik auszudehnen. In „National Gallery“ geht Wiseman erstmals ins Museum, in die traditionelle Londoner National Gallery, einem Geburtsort des Blickes zwischen Betrachter und Betrachtendem, wo Kunst Zeit einatmet, einsaugt und einfriert. Beginnend (und endend) damit, dass die Gesichter der Besucher mit den Motiven der Bilder ineinander verschränkt werden – grüblerische, verdutzte und in Überlegungen aufgelöste Gesichter einer Einkehr, zu der „National Gallery“ sklavisch zurückfindet, die gesamten drei Stunden über. Im Gegenschnitt: fessellose, verstopfte und ereignisüberschwängliche Bildmotive und -geschichten. Geeint durch die Versicherung, dass Kunst niemals jeden Tag einheitlich, sondern jedem umstandsvariabel erzählt.

Falls Kunst als Boot zu einem Horizont rudert, der uns gelobt, dass wir zuverlässig neues Land erblicken werden, sofern wir das Fernrohr ausziehen, und das ehemals alte hinter uns lassen, sofern wir dazu bereit sind, muss dafür bloß ein Rembrandt-Reitergemälde umgedreht werden. Rembrandt, der es mochte, eigenhändig korrigierte Sujets auf ein und derselben Leinwand zu übermalen, ist in Wisemans Abstecher zur Malerei Objekt eines ausgefeilten Referats über den Betrachtungswinkel: Mithilfe einer Röntgentechnik veranlasst es den vortragenden Restaurateur, das Bild auf den Kopf zu stellen, bei dem eine skizzenhafte Frühform erscheint, die Rembrandt offenbar nicht zufriedenstellte. Zwei Reiter, zwei Bilder in einem, verdichtet zu einem Psychogramm einer Denkweise. Die Wahrnehmung des Hinsehens, das Schärfen der Sinne zur Dechiffrierung des Sinngehalts und Kunst als lebensübergreifender, konstruktivistischer Begriff polstern derlei kunsttheoretische Wortschwallreden zwischen kuratorischem Engagement, leidenschaftlichem Appell und pingelig-präzisem Expertenwissen aus (ein Schmankerl an anderer Stelle: die Kontext- und Lichtanalyse eines Rubenswerks). „National Gallery“ versucht in jedweder konsequent subjektiven Faszination, das Boot Kunst vollzuladen und jedem in fragmentierten Schwerpunktüberleitungen zu Leonardo da Vinci und William Turner näherbringen zu wollen: Kunstfreunden ohnehin, wie Kunstfeinden für sich.

Aber auch wenn Wiseman im anbrechenden letzten Lauflängendrittel der üppigen Kunstsammlung der National Gallery konkret (und nicht zu maulfaul) den Vorzug gewährt, dringt er zwangsläufig interessanterweise in hermetisch abgeschlossene Bereiche vor, die sich synchron zum Besuchergeschäft hinter den Kulissen unromantisch verselbstständigen – die Minimalismusarbeit der Restauration sowie Branchenüberlegungen in brav artikulierten Debattierrunden zur progressiven Erhaltung eines Kulturapparats. Einführende, abgrenzende Worte spricht Wiseman dabei nicht. Die Kamera observiert, geht auf Tuchfühlung, nimmt die Lupe, das Mikroskop, schwere Werkzeuge, hämmert, spachtelt, ritzt, repariert und pinselt ohne Ankündigung, Leitweg oder Markierung. Integriert: Grundierungsaufsätze davor und danach, versteht sich. Ausgewogen justiert auf eine wechselnde Lautstärke der Aktivitäten, wird dieses Museum, die antiquiert duftende National Gallery, als eine magnetisch anziehende Attraktionsverlockung zusammengepuzzelt, deren oberflächliche Statik, Eleganz und Dynamik des Gäste- und Kunstwerkemeers von der Derbheit, Verzweiflung und Exaktheit übertüncht wird, wie etwa den Schatten eines Bilderrahmens zu minimieren, den Firnis einer ungenügsamen Vorrestaurierung zu begutachten oder unliebsame Budgeteinsparungen zu besprechen. Kunst ist wohl doch auch Arbeit. Arbeit und Abenteuer.

Meinungen

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Bisherige Meinungen

Yannic
22. Dezember 2014
19:33 Uhr

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