Jede Geschichte hat drei Seiten: deine, meine und die Wahrheit. Sarah Polleys „Stories We Tell“ erkundet wie das kollektive Gedächtnis eine Geschichte formuliert und sich Teile dieser Geschichte durch mehrere Erzähler und Informationen aus zweiter und dritter Hand entfalten. In einer Zeit der Unwirklichkeit, umhüllt von scheinbarem Realismus, demonstriert der Dokumentarfilm eine Studie der Macht des Subjektiven über unsere Entfremdung mit Sprache und Bedeutung. Es ist der Film einer Frau über ihre Mutter. Eine Familie. Unzählige Geschichten. Denn nichts geschieht nur uns selbst – unsere Handlungen und Reaktionen strahlen in jenen um uns herum zurück, bis sie direkt in sie verwickelt werden, weiter in unsere Leben treiben, geformt von unseren Entscheidungen. Dies sind Geschichten, die wir erzählen; und in ihrer Zahl – mit all ihren Widersprüchen und Vermutungen – bringen sie uns näher hin zur Wahrheit als eine endgültige Fassung jemals könnte. Ohnehin ist dies kein Film über eine Geschichte, sondern ein Film über Geschichten – jede und alle von ihnen.

Wenn du in der Mitte eine Geschichte bist, ist es überhaupt noch keine Geschichte – nur ein Durcheinander, ein tiefes Tosen, eine Blindheit. Nur danach wird es zu so etwas wie einer Geschichte, wenn du sie dir selbst oder anderen erzählst.

Margaret Atwood: „Alias Grace”

Die hier erzählte Geschichte selbst ist ein Ungetüm überraschender Perspektiven von Ereignissen, die Vater Michael Polley – zumindest der Vater, der Sarah aufzog – und seine Familie betreffen. „Stories We Tell“ beleuchtet die unermesslichen Aspekte um Sarahs Mutter Diane, die nur zwei Tage nach dem elften Geburtstag ihrer Tochter 1990 verstarb; und die Gefühle, Erinnerungen, Mutmaßungen ihres Mannes, der Kinder, Freunde und Lieben. Alle sind sie sich einig über die strahlende Präsenz der Ehefrau, Mutter und manchmal auch Schauspielerin: Wie das helle Licht ihrer Persönlichkeit ihre innere Trauer kaschierte, wie sie ein Mysterium umschmeichelte und sogar bisweilen zu Fall brachte. Doch „Stories We Tell“ unterscheidet sich nicht nur durch die Rücksichtnahme aller Beteiligten von vergleichbaren Familienodysseen, sondern wie weit sich die Wehen von Diane Polley über mehrere Familien und sogar die kanadische Medienlandschaft erstreckten.

Sarah Polley schart alle fünf Kinder ihrer Mutter beisammen, einige Männer ihres Lebens und weitere Randbausteine, die den Geschehnissen auf den Zahn fühlen. Wir sehen nervöse Geschwister vor den Interviews, an Pullovern und Haaren zupfende Hände; hören Fragen, ob man gut aussieht oder schon zu schwitzen begonnen hat. Tatsächlich profitiert der Dokumentarfilm davon: Der Attraktivität und Fähigkeit jedes Einzelnen, sich zu artikulieren. Eine höchst mächtige Sequenz reiht die Beteiligten schließlich gegen Ende aneinander, als sie die Traurigkeit in Diane Polleys Leben zu reflektieren versuchen – ihre Einsamkeit, Sehnsucht und ihren vorzeitigen Tod. Diese Struktur fordert Polley weder heraus, noch dekonstruiert sie das womöglich manipulative Konstrukt aus wirklich Geschehenem und bewusst geformter filmischer Realität.

In den frühen Szenen des Films sehen wir einen älteren Herrn – Michael Polley –, der mit schlurfendem Gang und leichter Verärgerung die Stufen bis zu einem Tonstudio entgegen poltert. Der frühere Schauspieler soll eine vorliegende Geschichte vertonen und bisweilen Sätze bis zur Zufriedenheit seiner Regie führenden Tochter wiederholen. Es erscheint wie der Dokumentarfilm eines Dokumentarfilms inmitten zahlreicher Meta-Momente an der Grenze zur Künstlichkeit. Und aus der Sicht von Michael Polley dürfte die Wiedergabe einiger schmerzhafter bis wenig schmeichelhafter Episoden vielleicht auch grausam sein. Doch vielmehr liegt dahinter eine Geduld und Eleganz mit der Sarah Polley ihren Film strukturiert und Lügenstränge in den Fragen selbst enthüllt, sie auf eine bedeutsame, sogar liebevolle Straße führt und dem Film erlaubt damit zu schließen.

Eine der unerwarteten Offenbarungen von „Stories We Tell“ porträtiert den Prozess um die Identität von Sarahs biologischem Vater und Michael Polleys großzügige Akzeptanz – ob er es nun selbst ist oder nicht. Auch ihn mag Bitterkeit befallen haben; doch wir sehen lediglich das überraschende Einfühlungsvermögen des bescheidenen Eigenbrötlers gegenüber seiner Frau und einem anderen Mann, der sie liebte. Die Geschichte, die er im Aufnahmestudio vorliest, ist eigentlich seine Geschichte; ein literarischer Ausbruch, nachdem er von dem Ergebnis des Vaterschaftstests erfuhr und den Diane Polley immer gehofft hatte von ihrem Mann zu sehen, der seine Talente beharrlich verdrängte oder zumindest wenig Verlangen offenbarte, sie in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Deswegen ist „Stories We Tell“ zugleich eine Reihe von Erzählungen, die eine zentrale Wahrheit suchen, und eine Reihe von Finten, die nicht nur den uns aufgedrängten Prozess infrage stellen, sondern die erinnerte und persönliche Realität in unseren Geschichten. Fern seines Mysteriums und der zwingenden Unwiderstehlichkeit seiner Charaktere beeindruckt der Dokumentarfilm schließlich, indem er die Künstlichkeit hinter all den Stellungnahmen aufbricht und entdeckt. Und da Polleys persönliche Familiengeschichte ihre eigens erlebte ist und mit einer geschickten Ausgewogenheit aus Objektivität und angemessener Subjektivität erzählt wird, berührt sie uns alle im Inneren. Denn eigentlich wringt sie aus den Befragten eine Untersuchung des menschlichen Zustands aus: ihr Verständnis, ihre Manipulation, Verweigerung und Anerkennung von Erinnerung. Statt Fakten von Lügen auszusieben, umarmt sie die Unzuverlässigkeit der Erinnerung und dadurch ebenso die Meinungsvielfalt, warum ein Individuum eine Geschichte in genau jener Weise mit eben jenen Auswirkungen erzählt.

Meinungen

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