Es beginnt über den Dächern New Yorks. Feuerwerkskörper knallen, der Himmel erhellt sich für einen kurzen Augenblick, ein Mann mit grauen Haaren heißt uns willkommen in „seiner“ Stadt, die er sich mit über acht Millionen Menschen teilen muss. Es erklingt Jazz, der leichtfüßig mit den Fingern schnippt, die Bildfolgen rhythmisch verdichtet; er erinnert an die New-York-Filme eines Woody Allen oder die Stand-up-Klubs, in denen Louis C.K. vor roten Backsteinwänden Lacher erntet.

Der Mann mit den grauen Haaren und dem Bier in der Hand heißt übrigens Mark Reay und ist obdachlos. Er ist weder Comedian noch neurotischer Autorenfilmer. Das Apartmentdach mit dem guten Ausblick ist sein Schlafplatz, Manhattan sein Zuhause. All seine Habe ist auf mehrere Schließfächer in einem Fitness-Klub verteilt, auf öffentlichen Toiletten verrichtet er seine morgendliche Routine. Am Abend wird eine Starbucks-Filiale zu seinem Büro, in dem er auf einem alten Apple-Laptop Bilder sortiert, die er im Laufe des Tages von attraktiven, vornehmlich weiblichen Passanten geschossen hat und die am nächsten Tag an Model-Agenturen weiterverkauft werden sollen. Neben gelegentlichen Schauspiel- und Model-Jobs ist es das, was er jeden Tag tut, um überleben zu können. Und eine Sache macht es noch kompliziert: Er hat nie jemandem von seiner Obdachlosigkeit erzählt. Und das in einer Welt, in der es so scheint, als sei Geld die letzte Sache, um die man sich sorgen müsste.

Die vielfältig gearteten Formen der Obdachlosigkeit zeigt „Homme Less“ erst gar nicht auf – und das soll er auch gar nicht. Regisseur Thomas Wirthensohn zentriert ausschließlich ein Einzelschicksal und stellt es in den Mittelpunkt. Ihm scheint mehr um ein Porträt Reays gelegen und darum dessen Spuren bis hin auf das Dach eines New Yorker Apartmentkomplexes nachzuspüren, statt eine ausführliche Milieustudie betreiben zu wollen. Wer ist Reay? Wer war er? Und warum hat er sich entschieden über seine Lebenssituation zu schweigen, nur um dann einen Dokumentarfilm darüber drehen zu lassen?

Zwei Jahre lang begleitete Wirthensohn den obdachlosen Fotografen im Stile einer teilnehmenden Beobachtung, skizzierte dessen Alltag, führte Gespräche, heftete sich an dessen Fersen oder überließ dem Schauspieler Reay ganz einfach die Bühne. Der Zuschauer wird dabei zum Komplizen und Wirthensohn rückt ihn mit entsprechenden Bildern ganz nah heran: intime Momente scheinbar wahrhaftig verlebter Emotionen in verwackeltem Digitalbild, die Kamera im Nachtmodus, um den sich im Schlafsack verkriechenden Reay auch wirklich von morgens bis abends beobachten zu können oder dessen Gesicht in der Großaufnahme – die Gesichtsfurchen, die mit Mitte fünfzig eben ihre Kreise ziehen, die grauen Bartstoppeln oder das dünner werdende Haar, das durch die Pomade hindurch umso deutlicher sichtbar wird.

Authentizität wird in „Homme Less“ großgeschrieben. Und doch begleitet einen fortwährend der Zweifel an der Authentizität des Gezeigten. Der Protagonist ist Schauspieler und weiß um die Wirkungsweisen von Bildern. Seine Liebesbeziehung mit der Kamera ist innig, ob vor oder hinter dem Objektiv. Immer wieder hat er einen lockeren Spruch auf den Lippen oder einen ironischen Kommentar, der seine Lage situativ entschärft. Reay weiß um seinen Charme, weil es sein Job ist, um ihn zu wissen. Trotz oder gerade deswegen drängt sich immer wieder die gleiche Frage auf: Wie viel davon ist echt? Und wie viel davon Reay? Der Film zerstreut diese Bedenken auch nicht, er intensiviert sie nur weiter. Mark richtet seine Ansprache gar direkt an den Zuschauer, durchbricht die vierte Wand und droht damit, zu jedem Zuschauer nach Hause zu kommen, um auf dessen Couch zu nächtigen. Diese Momente könnten eindringliche Einblicke in einen schwierigen Charakter sein oder doch nur Oberflächenreiz und Belustigung. Vielleicht sprechen aber auch gerade diese Bedenken lediglich für die Fähigkeiten der involvierten Akteure. Alles scheint richtig getaktet und gewichtet, Humor wechselt sich ab mit bitteren Selbsterkenntnissen, Rückblicke in die Vergangenheit mit ausgelassenen Partybildern. „Homme Less“ scheint als Handwerksprodukt fast zu makellos, dramaturgisch zu griffig, um echt sein zu können.

In jedem Fall verraten solche Momente, wie die direkte Adressierung des Zuschauers durch Reay, etwas über dessen schizophrenen Charakter. Einerseits offenbaren sich in unzähligen Interviewpassagen Eitelkeit und gekränkter Stolz, andererseits scheint aber auch die Lust am großen Auftritt, an der pathetischen Geste und am Mitleid mit sich selbst ganz deutlich spürbar. Und im Kreisen um sich selbst und im Maße der Selbstdarstellung scheint er dann doch mit Woody Allen geeint. Das mögliche Szenario auf jenen Freund zu treffen, auf dessen Dach er Tag für Tag übernachtet, wird beispielsweise einerseits dramatisiert, in der Flucht mit einem vorgetäuschten Telefonat gar zugespitzt, andererseits bereiten all diese Aufnahmen sein großes „Outing“ vor. In der einzelnen Begegnung steht die Scham zuvorderst da, im Rahmen einer Dokumentation jedoch, die die wichtigsten Aspekte seines neuen Lebens (neu) beleuchtet, rücken Montage und Interviews für Reay alles ins rechte Licht. Im Kameraobjektiv sucht er immer wieder die Bühne und den Zuschauer. Er will sich zeigen, aber ganz gezielt in diesem Rahmen, denn er erübrigt die persönliche Konfrontation.

Ist „Homme Less“ also nun nicht mehr als das Substitut für die abhandengekommene Anerkennung eines charmanten Selbstdarstellers? Und hat es mit Reay den Richtigen getroffen? Die Gedanken über den Film sind in gewisser Weise ebenso ambivalent, wie es der Protagonist zu sein scheint. Einerseits ist Reay ein großer Gewinn – rhetorisch gewitzt, humorvoll und elektrisierend – andererseits wird man das Gefühl nicht los, zum Erfüllungsgehilfen eines übergroßen, gescheiterten Egos geworden zu sein. Vielleicht macht gerade das „Homme Less“ wenn schon nicht liebens- zumindest sehenswert.

Meinungen

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