Der Autor weiß nicht, warum er schreibt, daher schreibt er. Auf einer ersteigerten Underwood. Von Jungfrauen, die in die Welt kriechen, Meeresungeheuern, die aus und in die Realität brechen, von Musikern, deren Väter früh schwanden. Und vom Wetter, das einem in der Ferne heimsucht, doch unwiderlegbar an den einen, später zur Heimat werdenden Ort fesselt. Gleichwohl wie Iain Forsyth und Jane Pollard mittels „20.000 Days on Earth“ in einem obskuren Experimental-Spielfilm-Hybriden das Leben respektive Schaffen des Nick Cave inszenieren, suchen sie ebenso nach der fortwährenden Transformation des Menschen zum Künstler, zum unentwegten Schöpfer eigener Ideen. So wie der hier exemplarische 20.000ste Tag des Lyrikers, Romanciers und Drehbuchautors (die Liste etwaiger weiterer Begriffe ließe sich beliebig erweitern) Nick Cave nur als zufälliges Vehikel dient; vorbei am Schwamm konservativer Dokumentarfilme, die Archivmaterial, fliegende Köpfe und skurrile Memorabilia kombinieren, um nur die winzigste Kleinigkeit aus der Person, ihrem Werk zu ziehen. Doch den Künstlern Forsyth und Pollard geht es nicht um die Realität und noch haftende Wirklichkeit, sondern um die hypnotische Fiktion – welche sie äußerst großzügig ihrem Objekt selbst überlassen.
Dieser Nick Cave ist dahin gehend ein dankbares Artefakt, so wie er bislang niemals den Drang verspürte, überhaupt einen Film über sich selbst in die Welt zu hieven, so wie er noch immer im Anzug, mit spitzen Schuhen und seinen schwarzen, streng nach hinten gezogenen Haaren auf der Bühne lehnt. Das Faszinosum Cave ist daher auch die Leiter für Forsyth und Pollard, an der es letztlich nicht zu fallen gilt, da jener sich immerzu der Inszenierung bewusst ist und diese präzise einsetzt, um den Kult um seine Person zu verstärken beziehungsweise neu zu definieren. Weil „20.000 Days on Earth“ genauso wenig einer konventionellen Narration folgt (Aufstieg, Fall, Katharsis) wie Cave ein konventioneller Künstler ist, entwickelt sich ein kalkuliertes Konstrukt; etwas Unnahbares doch darin Nahes – schließlich kann das Erzählte zwar wahr sein, doch ebenso auch nicht. Oder sogar beides zugleich. Einmal sitzt Cave bei dem Psychoanalytiker Darian Leader, er spricht über seine Kindheit, wie er aufwuchs und sein Vater ausführlich ein Kapitel aus Vladimir Nabokovs „Lolita“ analysierte, wie dieser ihm nach einem Konzert sagte, er habe wie ein Engel ausgesehen: Dies sind Geschichten, welche von der „blinden, unförmigen Idee“ wachsen zu einer interessanten Aufrichtigkeit, der wir ihre vermeintliche Illusion nicht ansehen.
Fundamental für das Verständnis des Films ist jedoch zwangsläufig auch die Diskografie Caves, besonders jene Phase seit 1983, als er „The Birthday Party“ sprengte und fortan bis zum Bruch im Jahr 2003 mit Blixa Bargeld (und „The Bad Seeds“) arbeitete, der hier nun wieder, in einem wohl ersten gemeinsamen Gespräch nach dieser Entzweiung, in Erscheinung tritt. Wir spüren in diesem halluzinatorischen Gespräch im Auto das Unausgesprochene, die Schwere und ein ursprüngliches Verständnis, welches vielleicht nie debattiert, sondern schlicht ad acta gelegt wurde – wie es im Leben manchmal ist, wenn sich die Wege teilen. Diese Art des Umgangs mit früheren und neuen Wegbegleitern – es kommen zudem der Schauspieler Ray Winstone und die Sängerin Kylie Minogue zu Wort – oszilliert in „20.000 Days on Earth“ um eine beinahe lyrische Ekstase, die sowohl musikalische als auch persönliche Notizen ans Licht holt. Cave, der Musiker, rödelt mit Warren Ellis an Klängen, an Zeilen, am Rhythmus; Cave, der Familienmensch, sitzt mit seinen beiden Söhnen auf dem Sofa, schaut „Scarface“, isst Pizza, sinnt nach seiner Frau Susie. Der Fokus liegt in jenen Momenten nicht auf der Frage des Dokumentarischen – er liegt in den alltäglichen Momenten; dort, wohin jeder Künstler zurückkehrt, wenn er nicht mehr auf der Bühne steht, sondern entlang des Ruhms lebt. Wo sich sein Kollege auf dem Stepper übt und er selbst testet, wie seine Lyrics wirken.
Der Inszenator Cave löst diese Intimität schlussendlich im Beben von Jonathan Amos’ Bildlichtgewitter, während Vergangenheit und Gegenwart kollidieren. Zuletzt bescheinigen Streicher zu „Jubilee Street“ die endgültige Metamorphose; jene fortwährende Transformation, die sich Iain Forsyth und Jane Pollard zum Ziel setzten und die ihnen leichthin gelang. „20.000 Days on Earth“ spürt so nicht direkt Nick Cave hinterher, sondern seinen Worten, deren Deutung und innerliche Form uns überlassen wird. Oder wie Cave es selbst sagt, als er in der brandenden Nacht am Strand steht: „Letztlich habe ich kein Interesse an dem, was ich komplett verstehe.“ Eine Aussage mit mehr als doppeltem Boden, ohne die Illusion völlig zu rauben.
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