Der schüchterne Alaa lebt mit seiner Familie in einer kleinen, heruntergekommenen Hütte in Ajam, einem verarmten Viertel in Jaffa. Sein Vater ist Fischer und besitzt ein kleines Motorboot. Häufig beobachtet der Junge den Vater dabei, wie dieser das Heiligtum der Familie, das Boot, pflegt und poliert. Auch für Alaa gibt es nichts Schöneres, als mit diesem Boot aufs Meer hinauszufahren. Als Lois, seine Tanzpartnerin, ihn das erste Mal besucht, möchte er ihr sein Lieblingsspielzeug nicht vorenthalten. Sofort führt Alaa Lois sie zum kleinen Hafen und präsentiert ihr seinen Schatz. Lois reagiert ein wenig verwirrt, da sie – Alaas Schwärmereien zufolge – ein riesiges Motorboot erwartet hatte. Aber dann nimmt Alaa sie mit hinaus aufs Meer, und die Enttäuschung ist sogleich passé. Auch Lois spürt jetzt die Magie des Meeres und der Natur. Zusammen mit ihrem Freund und Tanzpartner kann sie diesen besonderen Moment genießen.

Die Freundschaft zwischen Alaa und Lois, einem palästinensisch-israelischen Muslim und einer liberalen Jüdin, steht exemplarisch für die Welt, die in Hilla Medalias Dokumentarfilm „Dancing in Jaffa“ gezeigt wird. Der Film erkundet Jaffa, heute ein Stadtteil von Tel Aviv. Dort leben jüdische und palästinensische Israelis zwar nebeneinander, dennoch kommt es nur sehr selten zu einem Miteinander zwischen den einzelnen Kulturen. Die religiösen Unterschiede beherrschen das Stadtbild. Vorurteile und Konflikte ziehen sich durch alle Generationen. Konflikte, die tief verankert sind in den Menschen. Auch der international renommierte Tanzlehrer und preisgekrönte Turniertänzer Pierre Dulaine stammt ursprünglich aus Jaffa, ist allerdings seit seiner Kindheit nicht mehr zurückgekommen. Für seinen ersten Besuch in seiner Heimatstadt hat er sich viel vorgenommen: Das Tanzen soll die Menschen zusammenführen. Er möchte Kinder aus unterschiedlichen Schulen – palästinensischen, jüdischen und gemischten – miteinander tanzen lassen. Bei diesem Projekt begleitet ihn Hilla Medalia mit ihrer Kamera.

Tanztherapien sind weit verbreitet. Es gibt zahlreiche Dokumentarfilme, in denen Kinder über das Medium Tanz zusammengeführt werden. Auch in Deutschland inszenierte Sir Simon Rattle, der Dirigent der Berliner Philharmoniker, zusammen mit dem britischen Choreografen Royston Maldoom „Le Sacre du Printemps“ mit Schülern einer Berliner Problemschule. Filmisch begleitet haben dieses Projekt Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch in ihrem beeindruckenden Dokumentarfilm „Rhythm Is It!“ (2004). Aber auch Pierre Dulaine wurde bereits ein Dokumentarfilm von Marily Agrelo gewidmet. Das Programm „Dancing Classrooms“ wurde von Dulaine und Marceau Mitte der 90er initiiert und in Agrelos „Mad Hot Ballroom“ (2005) zum ersten Mal von der Kamera eingefangen. Ähnlich wie in „Dancing in Jaffa“ lässt Dulaine Schüler mehrerer Grundschulen in New York miteinander tanzen und führt so Kinder aus unterschiedlichen Milieus zusammen. Jedoch konnte das damalige Projekt unter ganz anderen Voraussetzungen stattfinden. New York ist ein kultureller Schmelztiegel. Orthodoxe Juden leben neben Puertorikanern. Chinesen neben Italienern. Reich neben arm. Alle müssen irgendwie miteinander auskommen.

In „Dancing in Jaffa“ sieht die Realität anders aus. Das Nebeneinander bringt nicht automatisch eine positive Grundeinstellung mit, die den Anderen akzeptiert – vielmehr das Gegenteil. Der Konflikt beginnt bei kleinen Details, wie dem Anfassen des eigenen Gegenübers. Jungs und Mädchen. Sie können sich nicht einfach berühren. Das ist in ihrer Kultur nicht so vorgesehen. Und dann auch noch ein Mädchen oder einen Jungen aus einer anderen Religion an der Hand nehmen. Das scheint zunächst unmöglich. Ob bei Eltern oder den Kindern selbst, steht Pierre Dulaine vor einem großen Problem: Die Schüler müssen lernen, sich zu vertrauen und respektvoll miteinander umzugehen. Dafür holt Dulaine seine jahrelange Weggefährtin und Tanzpartnerin Yvonne Marceau nach Jaffa. Die beiden schauen sich mit den Kindern altes Filmmaterial an – Schwarzweiß-Aufnahmen der zwei Profis. Wie verzaubert starren die Kinder auf den Bildschirm. Als Dulaine und Marceau dann auch noch zusammen tanzen, sitzt die Gruppe ruhig da und bewundert die beiden Tänzer in völliger Stille. Der Durchbruch ist geschafft. Die Tanzpaare zusammengestellt und die Proben können beginnen. Plötzlich ist der Ehrgeiz in den Kindern geweckt; sie treffen sich jetzt auch privat und tanzen gemeinsam auf dem Spielplatz, vor der Schule und zu Hause. Was zu Beginn so unmöglich schien, ist auf einmal Alltag.

Medalias Dokumentarfilm zeigt keine beschönigende Welt voller Illusionen. „Dancing in Jaffa“ möchte nichts verherrlichen. Es ist kein Dokudrama über einen berühmten Tanzstar und seine Mission, unvereinbare Kulturen und Menschen zueinander zu führen, die sich in der harten Realität nur bekriegen. Medalia erzählt ihre Geschichte auf eine echte und neutrale Art und Weise. Zum einen das Projekt von Pierre Dulaine. Zum anderen das Leben in Jaffa. Die Stadt und das Meer. Die Menschen. Die Proteste und Demonstrationen. Aber vor allem die Kinder. Wir bekommen einen Einblick in das Leben der jungen Tänzer und Tänzerinnen und dürfen sie auf ihrer Reise begleiten. Wir lernen Noor und ihre Mutter besser kennen, erfahren vom Tod ihres Vaters und verstehen auf einmal, warum es Noor so schwerfällt, sich in die Klasse zu integrieren. Durch das Tanzen wird sie ein anderer, offener Mensch –  mit Freunden und einem Tanzpartner. Auch Lois und Alaa stellen sich vor und zeigen ihr Leben, ihr zu Hause. Gerade durch diese intimen Momente wird „Dancing in Jaffa“ zu einem besonderen Film, der nicht nur irgendein Tanzprojekt begleitet, sondern den Menschen Hoffnung gibt.

Meinungen

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