Einmal sagt Julianne Moores Alice, sie wäre lieber an Krebs als an Alzheimer erkrankt, da sie und die Gesellschaft per se einfacher akzeptieren könne, wenn während einer Chemotherapie die Haare ausfallen, der Körper schwach, unbrauchbar, hinderlich wird – statt des langsamen, äußerlich unsichtbaren Siechens, welches mit einer Demenz einhergeht. Richard Glatzers und Wash Westmorelands Drama „Still Alice“ ist während dieser Wahrheit erst einige Sequenzen und eine kürzlich definierte Diagnose alt. Doch sein Wirken strahlt bereits darüber hinaus. Wie ist es, einen Menschen sukzessive zu verlieren? Wie, wenn man selbst schwindet, weil im Hirn Neuronen sterben und sich Tangles und Plaques bilden? Wenn einem der Name seiner eigenen Tochter unbekannt und Privatsphäre ein schwer zu entschlüsselndes Konstrukt wird? Der direkt Betroffene bleibt letztlich ohne ein Verständnis, was die Krankheit primär bedeutet, bei der Stationen der eigenen Biografie jäh und ohne Wiederkehr schrumpfen. Was hinfort ist, wird schließlich nicht mehr vermisst. Es setzt fokussierte Präzision voraus, als Künstler ohne Scheu in jene Köpfe zu sehen und die Gefühlswelt derer visuell zu gliedern, denen es an Struktur mangelt.
Die Blockbuster Hollywoods erzählen zuhauf von solchen Geschichten des Leids mit oftmals falscher Sentimentalität und Offenheit. Interessant ist allein, was filmisch konkret inszeniert werden kann: Cholera und Ebola, Wucherungen und Geschwüre, Bettlägerigkeit und blutende Tücher. Alzheimer dagegen bietet kein Schlupfloch im unvermittelten Tod. Beinahe alle Versuche, die Krankheit für eine breite Öffentlichkeit zu konkretisieren, scheiterten an aufgedunsener Überdramatisierung, Heuchlerei und mangelnder Subtilität (Hoffnungsschimmer: Sarah Polleys „An ihrer Seite“ und Michael Hanekes „Liebe“). Schlicht daran, dass zunächst die Sprache ins Stolpern gerät und der Körper zwar noch präsent, der Kopf jedoch schon anderswo ist. Das alltägliche Leben entrinnt auch der Protagonistin in „Still Alice“ nicht abrupt, sondern in stockender Vergänglichkeit. Zunächst handelt es sich um nur kurz zurückliegende Momente aus Alice’ Gedächtnis: ein Wort oder Name, das Rezept für Brotpudding, welches sie seit etlichen Weihnachtsfeiern verwendet, der Weg nach dem Sport zurück nach Hause. Der fortschreitende Gedächtnisverlust lässt sich aber weder emotional verdrängen, noch medizinisch aufhalten. Daher bündeln die Regisseure Glatzer und Westmoreland diese Auswirkungen in einer Szene verzweifelter Misere, die allein deswegen brillant ist, weil sie nichts außer einer Schauspielerin fixiert.
Dort plant Alice ihre Zukunft bis in die letzten Züge des Vergessens. Jeden Morgen soll sie auf dem Handy einige Fragen über sich und ihre Familie beantworten, bis sie dazu nicht mehr in der Lage ist. Dann nämlich weist ein Video auf ihrem Computer die letzten Schritte und die frühere die später kranke Alice an, was zu tun ist. Julianne Moore spielt sie beide in ihrer subtilen Reserviertheit völlig unterschiedlich, da die eine Alice nichts oder nur noch wenig mit der anderen Alice gemein hat. Wie sich der Film effektiv und präsent jener einen Figur widmet, sie selten aus den Augen lässt und mittels Moore substanziell entwickelt, illustriert Wagemut in einer ansonsten klassischen Dramaturgie. Natürlich aber fordern die Regisseure (unter den penetrant elegischen Klängen Ilan Eshkeris) eine andere Fallhöhe für ihre wohlsituierte Linguistikprofessorin in der Mitte ihres Lebens – mit drei erwachsenen Kindern und einem liebevollen Ehemann –, als es bei einer Protagonistin des Mittelstands oder der Arbeiterklasse möglich gewesen wäre. Das Geld ist hier nicht knapp, die familiäre Beziehung innig, der Ton weder absonderlich harsch noch missverständlich. Aus dem scheinbaren Fehler kreieren Glatzer und Westmoreland jedoch eine Tugend: Alice weiß um ihre Perspektive in der überraschungslosen Desillusionierung. Gänzlich ohne Melodram.
Doch „Still Alice“ plädiert vor allem im Kleinen für den verantwortungsbewussten, aufrichtigen Umgang abseits der Scheinheiligkeit – nicht nur mit Alzheimer, sondern prinzipiell mit jeder Krankheit, der keine äußerlich konkrete Definition folgt. Womit Richard Glatzer und Wash Westmoreland eine immer wieder vergessene Sicht auf Filme über den Menschen im Allgemeinen formen und nicht zuvorderst über ihr Umfeld.
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