Nicht jeder, aber jeder zweite Mensch mag Feuerwerk. An feuchtfröhlichen Silvesterabenden torkeln wir in die Nacht und blicken paralysiert in den Himmel, der sich in illuminierende Farbmischungen zerteilt. Neues Jahr, neue Vorsätze, neue nicht einhaltbare Versprechen. Ein Gefühl glückseliger Bequemlichkeit, mit Phrasen und Gemeinplätzen die eigene Zukunft zu gestalten. Diese zukünftige Gedankenspielerei hält nicht lange an – maximal eine Tageshälfte, in der die Elementarteilchen des Hemmungsmittels Rausch noch durch die Blutbahn schwimmen und dort für die tollste Fantasie sorgen. Allzu offensichtlich machen wir uns nur was vor; die Wunschvorstellung Zukunft ein Trugbild, dem wir leichtfertig vertrauen.

Feuerwerk sehen wir auch in „A Touch of Sin“. Damit ist einer jener Schlüsselkonflikte verbunden, die sich einprägen und von maßgeblicher Relevanz das Hauptthema des Films verschlüsseln. Die klassischen Emotionsattribute eines Feuerwerks negierend, beobachten wir einen Mann, der mit seinem Sohn eine Landschaft durchquert, über ihnen ein kunterbuntes, feudales Allerlei schwereloser Süßigkeiten, Träume, Wünsche. Zaghaft und fast ein wenig ängstlich fragt der Mann sinngemäß seinen Sohn, ob er selbst für Feuerwerk sorgen solle. So als ob dieser Mann andere, elementare Probleme hätte und nach einem Halt sucht. Seine Schüsse aus der Pistole klingen folgerichtig dumpf, nach Verordnung, Vorschrift und Zwang. Dieser Mann, ein Wanderarbeiter und Scharfschütze (mimisch präzise dargestellt von Baoquiang Wang ) – eine existenzialistische Einsamkeit umgibt ihn wie die Raketen den Himmel überfluten.

Woher kommt diese innere Kulturentfremdung? Darauf gibt der chinesische Autorenfilmer Zhangke Jia keine exakte Antwort. „A Touch of Sin“ gleicht einem Durcheinander von Antworten, die sich zu einer ähnlich entlarvenden Wahrheit bündeln: China befindet sich zwar im kapitalistischen Aufschwung wirtschaftlichen, sozialurbanen und politischen Wohlstands, gebärt jedoch Einzelschicksale von Individuen am unteren Ende der Zivilgesellschaft, die dem Fortgang der postindustriellen Moderne nicht gewachsen sind. Der Wanderarbeiter Zhou San ist einer von ihnen, keineswegs aber der einzige. Er steht für die von autoritären Provinzbetrügern abhängigen Verlorenen einer auseinanderdriftenden Strukturlosigkeit, die weder Armut wahrnimmt noch Reichtum beschränkt. Zwischen beidem klafft eine gewaltige Lücke. Das schnelle Geld, egal auf welchem Weg, die Hoffnung auf einen faireren Klassenkampf schweißt diese Menschen zusammen. Indem sie schließlich mit ihrer letzten Kraft wie verwandelt Rot sehen, ohne dass sie voneinander wissen, holen sie sich ihre Würde (gewaltsam) zurück.

Der lose strukturierte Film, gleichwohl verzichtet er auf jene gezwungenen Seitenlinien und manierierten Querverbindungen, die dem unwahrscheinlichen Zufall in archetypischen Episodenfilmen in die Karten spielen, wirkt daher auffallend näher dem vor sich hin vegetierenden, endlos einsiedlerischem Leben zugeordnet. Die Wahrscheinlichkeit, sich irgendwo in einem riesigen Land unbewusst zu treffen, ist gering, umso wahrscheinlicher ist der gleichermaßen übergeordnete wie uneingeschränkte Gedanke an Suche und Befreiung bis in die Intimsphäre. Die Kamera als objektives Protokollinstrument dokumentiert dabei das, was vage bleibt, die betäubende Wortkargheit innerhalb zwischenmenschlicher Kommunikation etwa, vor allem aber Gesichter, in die Jahre gekommene, müde gewordene Gesichter, die hilflos und ausgezerrt wirken, wenn als Beispiel dienend – eine andere denkwürdige Szene – ein Privatjet eine verwahrloste Minenarbeitergruppe besucht und der Widerspruch zweier miteinander unvereinbarer Systeme evident wird.

Vier Perspektiven manifestieren sich in „A Touch of Sin“: die eines Fabrikarbeiter (Lanshan Lou), der Angestellten einer Sauna (Tao Zhao), des Minenarbeiters (Wu Jiang ), des Wanderers. Dem Leitgedanken folgend, dass Umwälzungen chaotischer Zeiten ausgerechnet diejenigen treffen, die auch vorher nichts hatten, verteilen sich diese vier ausgemergelten, entkräfteten Querulanten über die gesamte Topografie Chinas. Einem ästhetisch von skelettartig festgekeilter Gebäudearchitektur zu pittoresken Großraumflächen wechselnden Landschaftsquerschnitt vergleichbar (der Film kultiviert eine sagenhaft breitmalerische Fotografie, die man ins Großformat übertragen möchte), sieht sich Zhangke Jia dennoch nicht unumstößlich einem demagogischen Zeigefingerpamphlet ausgesetzt, das man in seinem Werk zunächst vermuten könnte. Sobald das Blut übertrieben nach allen Richtungen spritzt und radikalste Gewalt das einzige probate Lösungsmittel zu sein scheint, vermengt „A Touch of Sin“ nicht nur die eruptiven Körperexzesse des John-Woo-Hongkong-Kinos, sondern bebildert die Kultur einer implodierenden Interessengemeinschaft zeitgemäß lakonisch, ja schwarzhumorig und wuchtig im Sinne zugleich schwer wie leicht zu goutierender Unterhaltung, die wie ein Feuerwerk euphorisiert. Bevor allmählich die Leere dahinter einen ermatteten Zustand zurücklässt. Zhangke Jia hat den Außenseitern und ihren alltäglichen dramatischen Banalitäten ein Poem von Film gewidmet.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „A Touch of Sin“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.