Lav Diaz’ Spielfilme sind bekannt für ihre durchaus längeren Laufzeiten. In „Norte – The End of History“ wird in unvergleichlicher Art 250 Minuten lang Geduld gefordert – eine zwingende Voraussetzung für die generelle Zugänglichkeit zu diesem Opus, das die berührende und zugleich verstörende Geschichte dreier Menschen erzählt, die durch ein einziges Verbrechen unvorstellbare Konsequenzen erleben.

Fabian (Sid Lucero) ist ein hochintelligenter Jurastudent, dessen Motivation jedoch nicht mehr für den Abschluss reicht. Seine Kommilitonen verfolgen ähnliche philosophische und politische Ansichten wie er, teilen aber nicht dessen radikales, absolutes Weltbild, das nur einen hasserfüllten Vernichtungsdrang als Lösung gegen das kapitalisierende, korrupte System des philippinischen Staats findet. Ihm ist es leid, in Theorien zu baden, seine Idole sind die von Nationalheld Emilio Aguinaldo ermordeten Revolutionäre der Philippinischen Revolution 1896 bis 1898: Andres Bonifacio, Jose Rizal und Antonio Luna. Aguinaldo ist noch heute auf dem Fünf-Peso-Schein auf den Philippinen zu finden. Fabian betrügt seit einiger Zeit einen guten Freund mit seiner Freundin, er will sämtliche Lügen verbannen und seine Tunnelblicke, die sich immer wieder in sehr anspruchsvollen Dialogen mit Freunden offenbaren, realisieren. Als er beobachtet, wie seine unbeliebte Pfandleiherin Magda, die ihm weniger Geld als ausgemacht ausgezahlt hatte, die verzweifelte Eliza (Angeli Bayani) despektierlich abweist, intensiviert sich sein allgemeiner Hass und gibt Eliza Geld. Innerhalb der nächsten Tage wird er Magda und ihre Tochter blutrünstig ermorden; es wird der Moment sein, der in diesem Film alles andere für immer verändern wird.

Aus dieser Perspektive gesehen, handelt der Student aus einer recht einfachen Ideologie: Das Böse muss entfernt werden. Die adipöse Magda bietet sich dazu perfekt als erstes Opfer an. Kurz vor ihrem Tod singt die Tochter noch das philippinische Kinderlied namens Pamulinawen. Diese unglaubliche Tat wird von Diaz sehr authentisch in Szene gesetzt. Er verzichtet hier sehr bewusst auf eine explizite Darstellung, die Kamera steht still und ab diesem Moment verfolgt man jeden Schritt von Fabian mit einem befürchtenden Beigeschmack. Doch das ist Diaz noch viel zu wenig, denn wir befinden uns immer noch am Anfang der Geschichte. Joaquin (Archie Alemania) ist der Mann von Eliza, ein aufrichtiger und liebevoller Mann, der nach einer schwerwiegenden Beinverletzung auf Krücken laufen muss. Das Ehepaar mit zwei Kindern schuldet Magda eine hohe Summe, die sie durch die Eröffnung eines eigenen Lokals begleichen wollen.

Dieser Traum platzt aufgrund Joaquins Verletzung, das Paar muss Sachen unter Wert an Magda verkaufen, um an Geld zu kommen. Joaquin will einen Ring von Magda zurückbekommen, der seit Ewigkeiten der Familie seiner Frau gehörte und für nur 250 Pesos den Besitzer wechselte. Magda weigert sich, wird rassistisch, Joaquin verliert die Kontrolle und würgt sie, flüchtet aber, als die Gehilfin die Polizei rufen will. Noch am selben Tag erscheint Fabian und bringt die Familie um, Joaquin wird aber zum Mörder vor Gericht und muss ins Gefängnis. Alles, was danach in mehr als drei Stunden passiert, dreht sich um diesen Angelpunkt und zeigt die Konsequenzen des Mordes, der nicht nur Fabian innerlich zerreißt, sondern auch die unschuldige Familie von Eliza und Joaquin.

Diaz versteht es, lange, wunderschöne Einstellungen für eine hervorragende Bebilderung der philippinischen Gesellschaft zu nutzen, eine semidokumentarische Erzählweise, in der das Nichts eine Größe spielt. Würde man die 250 Minuten so kürzen, dass nur noch Dialoge und Handlung übrig blieben, wäre sicherlich einiges weggefallen, was den Film aber nicht zu dem machen würde, was er ist. Wie eine Milieustudie mit akzentuierter Explosivität, die aufgrund dessen umso verstörender wirkt, wie eine philosophische Betrachtung dreier Charaktere, deren psychische Wandlungen Stoff für Doktorarbeiten liefern würden. Diaz verrät nämlich nicht alles; er zeigt das Geschehen, geht aber niemals nahe hin, bleibt distanziert und macht ständig neugierig. Wieso tut Fabian so etwas Unmenschliches? Wieso besucht Eliza ihren Mann, den sie über alles liebt, nicht im Gefängnis? Wieso fällt Joaquin sein Leben in einer Zelle leichter, als zu Hause? Das macht die 250 Minuten fesselnd, auch wenn im zweiten Drittel des Films bewusst gesetzte, monotone Längen das Seherlebnis nicht vorantreiben. Im Gegenteil, es gibt Momente, die absichtlich langweilen, nur um die tragische Hoffnungslosigkeit zu betonen.

Alle Schauspieler sind perfekt in ihrer Rolle verankert, die Kameraarbeit inklusive Helicam ist bestaunenswert, die Umsetzung der Idee von Produzent Wacky O mehr als löblich. Dabei ist „Norte – The End of History“ weder etwas für schwache Gemüter noch etwas für Vine-Liebhaber. Es werden zahlreiche Themen angesprochen, die alle miteinander verwoben sind und die Geschichte vorantreiben. Es geht um Schuld und Sühne, Religion und Reue, Gewalt und Anarchie, Radikalität und Gier, Macht und Liebe, Loyalität und Träume. Gegen Ende finden sogar surrealistische Ebenen einen Weg in die ansonsten sehr realistisch gehaltenen Szenen, die eine bestimmte Ambivalenz nur noch verdeutlichen und den eigentlichen, auslösenden „Fehler“ enttarnen: Absolut zu sein.

Meinungen

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