Ein guter Stuhl ist niemals unerheblich. So kann das Sitzgerät bei einem längeren Film zum größten Feind werden – wenn sich Blockbuster wie Kaugummi ziehen und auch der Stuhl nicht mitspielt. Deshalb darf ohne Weiteres gefragt werden, warum die Verantwortlichen der Berlinale die zweite Vorstellung von Lav Diaz’ Acht-Stunden-Epos „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ in das Haus der Berliner Festspiele gelegt haben. Die Bestuhlung dort als nordkoreanisches Folterinstrument zu bezeichnen, wäre geschmeichelt. Aber vielleicht wollte man gerade das erreichen: Den Zuschauer durchleben lassen, was den Protagonisten auf der Leinwand widerfährt.
Wieder begibt sich Diaz mit seinem neuesten Werk in die Vergangenheit seines Landes – und wieder ergründet er die Geschichte der Philippinen und lässt sich dafür Zeit, viel Zeit. Als bedeutender Vertreter des sogenannten Slow Cinemas wird Diaz gehandelt. Andrei Tarkowski liebt er, Béla Tarr ist ein guter Freund. Genau wie diese Regisseure versteht es Diaz, eine gewaltige Sogkraft zu entwickeln. Bis diese in „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ eintritt, vergehen allerdings zwei Stunden. Zu Beginn gibt es allerhand politisches Gerede, das vielleicht benötigt wird, um den Zuschauer, der mit der Materie nicht vertraut ist, an das Thema heranzuführen. Aber genau diese zwei Stunden Dialog über die philippinische Revolution Ende des 19. Jahrhunderts sind die schwersten, die der Film zu bieten hat. Kämpferqualitäten sind also vor allem am Anfang gefragt. Dann begibt sich der Film mit seinen Charakteren in einen schier unermesslich großen Wald, aus dem er zwar später ab und an ausbricht, doch immer zurückfindet. Und von diesem Moment an entwickelt Diaz eine beeindruckende, wenngleich selten fesselnde Kraft, die man in dieser Form selten erlebt.
Das Schönste am Kino des Lav Diaz ist wohl der absolute Verlust von jeglichem Zeitgefühl. Ohne Uhr, Smartphone und der Wahrnehmung einzelner Tageszeiten, ist man den Bildern Diaz’ ausgeliefert und dringt mit jeder Minute weiter in das Dickicht dieses eigenwilligen und doch schönen Kinos. Die Spezialisten der Berlinale haben aber auch dies nicht erkannt und nach ziemlich genau vier Stunden eine von Lav Diaz nicht vorgesehene Pause eingefügt. Und da war es wieder, das Gefühl von Zeit. Schade.
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