Wie spröde, doch wie robust. Die Wolken am Horizont schwimmen stumm vorüber. Sie lassen den kommenden Sturm unvermutet, der alsbald die Virginia Jean und möglicherweise ihren einzigen Bewohner verwüstet. Dieser Namenlose, nahezu Wortlose sorgt sich inmitten all des Metalls, des Kunststoffes und Holzes, all der Maschinen, einzig um das Natürlichste und zugleich Tierischste im Menschen: sein Überleben. Wie einfach es doch wäre, getötet zu werden, doch wie schwer zu sterben. Regisseur J.C. Chandor scheut in „All is Lost“ die schroffe Maskulinität, welche den traditionellen Erzählungen über das Überleben im Darwin’schen Sinne der natürlichen Selektion („Survival of the Fittest“) innewohnt, für eine zunächst entrückte und später schließlich angemessene Zärtlichkeit. Die Tonmischung legt sich dünn und graziös darum, der Schnitt bedächtig und raffiniert – und unser Mann (Robert Redford) ist sicherlich keine physische Partie für die Mühsal, welche ihn erwartet, von seiner Ausdauer und mentalen Stärke abgesehen. Jene psychische Kraft meidet flüchtige Emotionen und leugnet ihm mit Arroganz gegen sein Schicksal zu wettern, zu fluchen und nach einer höheren Schuld zu suchen.
Old man we’ll hold your face
Sons danced for your song
Old man looked around
Heard but the sound
Amen, Amen
Denn sein Pragmatismus kann ihn nicht retten, diesen einen durchaus lästigen und beunruhigenden Fakt des Lebens anzunehmen: Dass es enden wird. Wenn wir nun im Charakter Redfords in dieses tiefe, mystische Wasser gezogen werden, unser Atem langsam versagt, der Körper ob der Sauerstoffarmut zu krampfen, sich zu winden beginnt, dann spüren wir eine einzigartige Metapher auf das Leben an sich und ein wenig auch: auf den Tod. Auf das langsame Verschwinden, wenn wir Licht und Schatten vor unseren Augen nicht mehr auseinander halten können, wir einen letzten Gruß an die Welt aussenden möchten und uns die Worte dennoch fehlen. „All is Lost“ spielt nicht mit seinem Protagonisten („Our Man“, wie er im Abspann genannt wird), sondern subtil mit der Angst eines jeden von uns, der Angst vor Tod, Vergessen, Irrelevanz; dass wir in dieser Welt nichtig, zu klein wären, um etwas „erreichen“ zu können. Für einen Film, der sich vorgeblich mit praktischen Belangen beschäftigt, entwickelt sich „All is Lost“ zu einer entwaffnend spirituellen Erfahrung, und es obliegt allein der Sensibilität von Chandor diese fundamentale Charakteristik so einzubetten, dass sie fruchten mag.
Unser Mann endet nicht in einem physischen Kampf, sondern in einem mentalen. Ob er gewinnt oder verliert, lässt Chandor ebenso im Unklaren wie die Vorgeschichte dieses Mannes – weil beides rein unvariable Tatsachen sind, die zwar das Denken über den Charakter per se konkretisieren, aber weder der Empathie dienen, noch fordern, was Chandor stattdessen furios gelingt: Aus der Geschichte eines Mannes, eine des Menschen an sich zu kristallisieren. Den Trieb zu formen, das pure Sein, welches im Hier und Jetzt nur noch in den Extremen zutage treten kann. Beinahe gerissen fokussiert J.C. Chandor jedoch zunächst nur das Einzelschicksal und Straucheln eines einzigen menschlichen Wesens über Wasser – um jeden Preis. Eine Allgorie ist es darin gewiss auch. Dabei schöpft er in „All is Lost“ ebenso aus den wohlfeilen Pointen, den Devisen, den ruppigen Stakkatodialogen seines Debüts „Der große Crash – Margin Call“ über die Finanzkrise: Der eine fast stumm, der andere redselig; im einen zieht der Sturm auf und explodiert, im anderen hat er gar schon alles Zerstörenswerte niedergerissen. Beide eint die moralische Ambivalenz und die Krise in Menschen, welche in gewöhnlichen Situationen ungewöhnliche entdecken und just noch gewöhnlicher enden. Beide eint ihr geschriebener Charakter – sie wirken skriptiert im höchsten Maße.
Chandor schildert die Flucht und das Heimkehren – das Leben in seiner herrlichen Tragik. Statt Geplänkel konzentriert er in „All is Lost“ die Mise en Scène, sodass die Virginia Jean, ihr Innenleben und das weite Meer alle zugleich für ihren Kapitän und seinen Notstand sprechen. Ähnlich Ernest Hemingways Novelle „Der alte Mann und das Meer“ spürt der Film einer natürlichen Entwicklung nach und symbolisiert seine Erzählung, indem er die Symbolik in einen niederen Kontext wirft, aus der sie erst die weltlichen Deutungen aufnehmen muss. Die vollkommene Reduktion von Emotionen lässt ihn mürbe wie seinen Protagonisten erscheinen. Später wirkt er durchaus träge, umso endgültiger das Schicksal unseren Mann in die Knie zwängt. Seine Bedächtigkeit ist gleichzeitig Ballast und maßloser Gewinn, denn diese Geschichte regelt alle Entwicklung im Langsamen.
Unser Mann ertrinkt, doch ertrank schon zuvor. Wenn er stirbt, wenn er Hunderte Meilen vor der Küste von Sumatra im Indischen Ozean sterben sollte, dann stirbt er den Tod seiner Imagination, nicht den seiner Realität. Unser Mann schweigt, weil Worte seine Bedeutung verloren. Darin liegt ebenso eine Universalität verborgen: Er ist einer von uns und keiner von uns; wir verstehen seine Situation ohne Worte und verstehen sie nicht; die Bewohner des Meeres hoffen auf ein Mahl und wissen um den Bewohner über ihnen, der seinerseits ein Mahl sucht.
Entgegen des Titels agiert er wie ein Überlebender, der das Schicksal ausmanövrierte, da sein vorheriges Leben zwar verloren ist, das Treibende auf dem Wasser und für ihn einzig relevante jedoch nicht. Er möchte es in seinen Gedanken bewegen und eine Lehre ziehen. Und als er diese Lehre in einem vorangestellten Abschiedsbrief zieht, presst er sie hinein in ein Weckglas: eine aufrichtige Entschuldigung an einen Unbekannten. Er schreibt: „Alles ist verloren. Es tut mir leid.“ Wie wahr sich diese Nachricht anfühlt und ihre drohende Fatalität. Wie wahr sie sich anfühlt, weil wir fortwährend den Ring an seiner Hand sehen, wenn er sich nach dem Leben streckt, und wir wissen, er hält ebenso den Schmerz, das Leid und die Liebe eines anderen Menschen in seinen Händen. Nicht er ist allein auf See, allein in seinem Boot, später allein auf einem Plastik-Ersatz, der ihn tragen soll: Wir sind allein – mit uns, unseren Gedanken, Traumata, allein, verlassen, einsam, sprachlos. Einmal brüllt unser Mann ein tobendes, ein gebrochenes und langsam ersterbendes „Fuck“ in die See, als Salzwasser in die letzte Ration trinkenswerten Wassers gerät. Er schreit – und niemals fühlen wir seine Verzweiflung stärker. Dabei drängt sie sich nicht aus dem geschrienen Wort, sondern seiner Mimik und den unzähligen Empfindungen, welche auf seinem Gesicht taumeln. Allein, dass Robert Redford diesen Mann spielt, erzählt uns alles, und gleichzeitig nichts.
Warum verlässt ein Mensch sein Leben? Weil es nicht mehr wie eines wirkt? Weil uns der Sinn dessen entfallen ist? Weil wir brennen möchten „wie römische Lichter in der Nacht“? Weil das Brennen nur in der Aufgabe des Bekannten und Annahme des Unbekannten möglich ist? Weil uns der mögliche Tod als Kampf des Lebens hinlänglich mehr interessiert als alles Geruhsame? Alles ist wirr wie in einem Traum, aus dem wir langsam erwachen. „All is Lost“ könnte dieser Traum sein, aber das würde ihn zu etwas Leichterem verkommen lassen, als er wirklich ist. Das Ende dann windet sich sogleich als Illusion, als Erinnerung, Meditation, als Bündel jener großen Last, welche jeder von uns trägt. Erst als unser Mann in einer einzigen Sequenz beides annimmt – Leben und Tod – rückt die Gewalt hinter seiner Odyssee ins Licht: wortwörtlich. Alles ist verloren, wenn nichts verloren ist.
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