Eine Kontroverse, zwei Meinungen. Daher besprechen wir Martin Scorseses „The Wolf of Wall Street“ mit Leonardo DiCaprio gleich doppelt. Die positive Zweitkritik findet sich hier.

(Diese Kritik ist für Leser unter sechzehn Jahren nicht geeignet.)

Geld, Geld, Geld en masse: gedruckt, gebündelt, ausgegeben, eingezahlt, verzehrt, gespendet, gekauft. Es leuchtet an den Brüsten einer Frau, während ihr davon und mit Frischhaltefolie umschlungener Körper mehr sein möchte, als die irrtümliche Variante einer verschwitzten Hand und noch mehr sein sollte, als die personifizierten, klebrigen Scheine Amerikas. Geld und Titten. Beides flutet die sterblichen Hüllen in Martin Scorseses Groteske „The Wolf of Wall Street“ mit Koks, dem schneeweißen Zunder, den die Halunken mit gieriger Zunge und einem Hecheln durch die Nasen würgen. Manchmal sogar pusten sie ihn aus der Analrinne einer Nutte. Mehrmals. Unbeeindruckt. Dabei salbt der Börsenmakler Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) alle gleichermaßen: die Arschlöcher, Adipösen, Asozialen. Mit öliger Gelfrisur und zunächst billig verschmitzter Visage predigt er von der Attrappe des Wahnsinns. Wenn der Millionär und Exzentriker Howard Hughes (Scorsese belebte ihn in „Aviator“) ein Jahrzehnt länger unter uns geweilt hätte, so wäre er just über seinen Doppelgänger gestolpert. Und ob seiner Schmierigkeit erneut ins Ableben gerutscht.

Dieser Jordan Belfort ist ein Zustand: der Zustand eines vergewaltigten Amerikas. In Belfort windet sich die Gier nach allem, aber vordergründig und äußerst großzügig doch nur nach den Moneten des Teufels. Er sagt etwas aus über die politische, ökonomische und demografische Begierde eines ganzen Landes, allein weil er in sich selbst eine Täuschung, Illusion, einen unendlichen Traum lebt. Dabei säuft er an den Brustzitzen Amerikas die Milch einer absonderlichen Vereinigung: die des einen Prozents; jenen Menschen der Oberschicht, welchen das Geld in die Bankkonten schießt wie anderen der Angstschweiß aus den Poren. Ein Prozent meint eine Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit, am Tag einen Mittelfinger ins Gesicht geschleudert zu bekommen (hoch), die Wahrscheinlichkeit, an diesem Mittelfinger haftet noch ein Rest Koks (möglich), die Wahrscheinlichkeit, dieser mit Koks umsponnene Mittelfinger gehöre einer Edelnutte (beinahe unmöglich). Dieses eine Prozent schert sich um keine Steuer, keine Strafe: nur die Illegalität ihrer Taten. Illegal um des illegalen Willens. Martin Scorsese stürzt dort hinein – in den Schlund aller Lust, in das wattierte Meer des Verbrechens. Doch es sichert die Tore vor ihm. Stattdessen also hinein in den Schlund des offensichtlich Banalen, entlang der redundanten und doch überaus amüsanten Nabelschnur des Kapitalismus.

Schon immer fixierte Scorsese die rohe, scheußlich intensive Genusssucht seiner männlichen Protagonisten – inmitten ihrer Brüderlichkeit und dem Moment, als alle Freundschaft den Wettbewerb untereinander nicht mehr zu tarnen vermag. Alles Zwischenmenschliche oder gar jede Emotion liegt brach. Denn sie lebt nur, solange sie Gewinn für ein übergeordnetes Geschäft trägt. Das Geschäft in „The Wolf of Wall Street“ meint jedoch kaum das der Finanzen. Selbst die Finanzkrise und deren aufklärerische Verdorbenheit oder Anklage des Prestigekonsums aus J.C. Chandors „Der große Crash – Margin Call“ meint er nicht. Schon gar nicht jedoch die Fassade und elitäre Farce in Woody Allens „Blue Jasmine“ und welche Lügen wir für den Ruhm in Kauf nehmen. Die innere Leere seiner Protagonisten tritt nicht durch die Leere (oder eher plakative Fülle) der Großraumbüros, sondern durch Prostituierte, Liliputaner und Affen. Das Geschäft arbeitet nicht, es feiert. Nur, dass die wahren Ausschweifungen Belforts wie die filmisch rekonstruierten kein Ende finden. Zumindest nicht in dieser Welt. Schon gar nicht in jener Scorseses.

Das vermeintliche Experiment, Scorsese würde im reifen Alter wie ein geiler Jungspund inszenieren, implodiert jedoch zunehmend und produziert dafür eine exemplarische Anordnung seines Scheiterns; seines puren, aufrichtigen Scheiterns im satirischen Niveau. Es scheint, als ob ein Meister zu seinen Wurzeln findet und sie selbst abtrennt. Aus Little Italy gedeiht Downtown Manhattan. Aus der Gosse der Wolkenkratzer. Oder wie Belforts Mentor Mark Hanna (köstlich: Matthew McConaughey) früh seine Empfehlung untermalt, doch lieber mindestens zweimal täglich zu masturbieren: „Fugayzi, Fugahzi, it’s a wahzi, it’s a woozie, it’s a … fairy dust!“ Alles ist ein Fake, ein Schwindel, eine Variation des Lügen- und Obskuritätenkabinetts. Sogar eben „The Wolf of Wall Street“, der Film, die Person an sich. Tatsächlich trifft Hannas Monolog als einziger in diesem immerhin dreistündigen Film die Kernthese dessen, was Börsenmakler allgemein und Jordan Belfort und sein Unternehmen „Stratton Oakmont“ explizit auszeichnet – sie besonders werden ließ, indem sie zunächst bürgerlich erschienen: ihre Paranoia. Leichthin könnte es noch die Paranoia aus „Goodfellas“ sein, wie sie all jene heimsucht, die in Kriminalität und Sünde waten.

Doch in „The Wolf of Wall Street“ infiziert Scorsese dem Kriminellen Henry Hill zusätzlich das Gen namens Bombast. Und wie da erst Kult, Rassismus, Moral und Prüderie in einer Szene auf Methaqualon (ein stark euphorisierendes Hypnotikum) einen Rausch bilden und sich alle filmische Finesse in Rollen, Kriechen und holprige Laute zersetzt. Eigentlich wäre es eine zauberhaft irrsinnige Wiederkehr des Slapstick. Aus ihrem Kontext gerissen, definiert sie jedoch lediglich Katatonie. Zwar garniert Leonardo DiCaprio als Dauer-Concierge Scorseses die Statik mit roher, energetischer Physiognomik und improvisierter Dysfunktionalität, sein Jordan Belfort bleibt jedoch aufgrund des bedauerlichen Drehbuchkonstrukts eher ein mühsam abgewrungener Lusttropfen denn ein eigentlich charakterisierter Zeitgeist. So ist „The Wolf of Wall Street“ die schizophrene, shakespearesche Tragödie auf das Trugbild des Lebens und ein mächtiger, filmischer Irrtum: Weil er nicht mehr von Menschen oder Institutionen erzählt, von keiner Liebe oder Emotion mehr, sondern nur noch von der aufgewärmten Tiefkühlpizza, während gegenüber ein Pizzaiolo seiner Kunst frönt.

Lassen wir es anders enden: Es ist Nacht, doch eigentlich Tag. Ein Bündel von beißenden Lichtstrahlen versenkt sich durch eine blaue Linse, das Bild wandert ins Unterkühlte, es flüchtet in eine andere Zeit. Little Italy. Zwei Mobster, ein italienisches Restaurant, eine Debatte. Es geht um Geld, Moral, Spaghetti alla marinara. Der eine heißt nicht Henry Hill, der andere nicht Charlie Cappa. Doch was unsere Vorstellung aus ihnen kreiert, bleibt die schmutzige Poesie der Straße. Die Szene rollt „wie ein Zug, ein Zug in der Nacht“. Truffaut wusste dies, Scorsese wusste dies einmal.

Meinungen

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