Eine Kontroverse, zwei Meinungen. Daher besprechen wir Martin Scorseses „The Wolf of Wall Street“ mit Leonardo DiCaprio gleich doppelt. Die verhaltene Zweitkritik findet sich hier.
Ars vendendi – die Kunst des Verkaufens, die Kunst der Manipulation und der Verführung. Jordan Belforts (Leonardo DiCaprio) rhetorische Fähigkeiten überfordern die Sinne seiner Klienten und seine Masche funktioniert immer, den großen Fischen wertvolle Aktien wie Köder an einem Haken vorzugaukeln und von diesen schließlich in einem Meer des unendlichen Hyperhedonismus aufzutauchen. Doch die See hat ihre Gesetze und Gesetzeshüter, die den von der Presse betitelten Wolf zähmen wollen. Doch ist dieser vermeintlich Gezähmte am Ende nicht dennoch der Gewinner?
Belfort ist der pure Materialist, der manische Opportunist, dessen Lebensziel eigentlich ganz einfach ist: Reichtum. Reichtum an allem, was das Leben in den 80er und 90er Jahren zu bieten hat; Reichtum an der Ekstase, der Überwindung vorstellbarer Grenzen, dem übermenschlichen Bedürfnis nach mehr und wieder mehr, nach dem Meer des unendlichen Luxus und der endlichen Verfügbarkeit eines künstlichen Deliriums, aufbauend auf die Expansion des eigenen Einkommens und des eigenen Schaffens. Er ist Teil eines amerikanischen Finanzsystems, das sich selbst an die Löwen verfüttert, wären Löwen eine Allegorie für Geldgier und Kapitalismus. Verbrecher, Gangster, Graukriminelle, sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind den Behörden, den suchenden Booten, meist einen Schritt voraus, resultierend aus notgedrungener Flexibilität – Not macht erfinderisch. Deshalb ist es Belfort überhaupt möglich gewesen, einen solchen illegalen, exzessiven Lebensstil zu führen. Neben Francis Ford Coppola, der mit seiner „Pate“-Trilogie einen Meilenstein für das amerikanische Gangster-Kino gesetzt hat, ist Martin Scorsese wohl unumstritten der Regisseur für Filme über kriminelle Organisationen, wie er es bereits mit „Hexenkessel“, „Goodfellas“, „Casino“ und „Departed“ eindrucksvoll bewiesen hat.
Ein Epos von 180 Minuten Spielzeit kann schnell langweilig und redundant werden. Doch Scorsese schafft es ohne Probleme – aufgrund des ausgezeichneten Drehbuchs von Terence Winter – mit „The Wolf of Wall Street“ den Zuschauer zu fangen, denn auch dieser befindet sich im angesprochenen Meer dieser Welt. Sobald man in das Ambiente der Maßlosigkeit Belforts als Person und seiner Ambitionen eintaucht, stößt man von allein gegen festgewordene Seifenblasen: Unvorstellbarer Luxus, unvorstellbare Summen an monetären Mitteln und unvorstellbarer Gewinn an Macht und dem Glauben, Belfort sei ein Gesetzloser, ein so riesiger Wolfswal, dass er in kein Netz des FBI passen würde. Er betrügt seine Klienten, indem er deren Geld mit Hilfe von Strohmännern sammelt. Erhaben und frei von Angst oder Gesetz bewegt er sich offensichtlich auf der Wasseroberfläche. Es scheint so, als lebe er als Übermensch, doch Reichtum verbessert nicht stringent das Wohlergehen eines Menschen, fördert jedoch in vielen Fällen das Verlangen nach vermeintlicher Perfektion und lässt die aristotelische Tugend der goldenen Mitte vergessen. Nun könnte so mancher den Eindruck erhalten, dass der Hyperhedonismus verherrlicht werden würde, vor allem wegen seines expliziten, durchaus oft dargestellten Ausmaßes. Dem ist aber nicht so.
Die zu verachtende Attitüde Jordan Belforts wird verachtet, eindeutig kritisch ins Licht gerückt und ohne jede Sympathie dem Zuschauer vermittelt. Er und seine schwimmenden Affen von Kollegen, die er mit seiner funktionierenden Rhetorik füttert, werden stupide, oberflächlich und animalisch charakterisiert. Er treibt auf den Wogen eines Trends der Opulenz und bringt sie zum Exzess. Er hält agitierende Reden wie vor einer Schlacht und seine Jünger fressen ihm wie Omnivoren aus der Hand. Er ist aufdringlich, betrügerisch, manipulierend. Da „The Wolf of Wall Street“ aber gleichzeitig eine raffinierte Satire ist, wird das Übertreiben in der Darstellung einerseits zu einem reflektierenden Ausdruck von Maßlosigkeit, andererseits zu einem Stilmittel von rabenschwarzem Humor.
Diese Ambivalenz ist zum großen Teil Verdienst von Jonah Hill, der Belfort als Donnie Azoff assistiert. Der 30-jährige Amerikaner, dessen Weg von derben Komödien à la „Superbad“ bis hin zu Rollen in „Moneyball“ führte, wofür er für den Oscar als besten Nebendarsteller nominiert wurde, setzt sich hier selbst die Krone des vulkanischen Vulgarismus auf, dessen Ausbrüche immer wieder für heftige Wellen sorgen. Es ist äußerst lobenswert, dass Scorsese damit die richtige Balance zwischen Seriosität und Groteske gefunden hat, und jeder Schauspieler reiht sich in eine weiterhin zu lobende Position ein. Allen voran ist die Leistung von Leonardo DiCaprio zu ehren, dessen sensible Verkörperung von Belfort sowohl auf innerer, als auch auf äußerer Ebene schlicht genial ist. Er und das Team trafen den echten Jordan Belfort, was zur natürlichen Authentizität beigetragen hat und weswegen die Schauspielerei insbesondere in den Drogenszenen glaubhaft wirkt. Vieles wurde aber auch improvisiert, beispielsweise die frühe Klopfszene zwischen DiCaprio und Matthew McConaughey, die für den ganzen Film relevant ist.
Natürlich nimmt der Flug eines Ikarus im Himmel irgendwann einmal ein Ende. Doch wie bereits gefragt: Wer ist denn schließlich der Gewinner in einem Spiel ohne Regeln? Denn lächerliche 22 Monate Gefängnis für Jordan Belforts Verbrechen sind nichts weiter als eine konsequente Weiterführung seiner Gesetzlosigkeit, die sich vor allem durch seine erfolgreiche autobiografische Publikation, seine Arbeit als Unternehmensberater und Motivationstrainer äußert. Es ist eine subtile Intention, welche die Macher verfolgen: Stoppt den Finanzbetrug, den Kapitalismus, die Dekadenz!
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