Als er sich entschließt, das Gesetzbuch zu benutzen, lachen ihn alle aus. Als er sich entscheidet, mit dem Colt zu morden, hindert ihn anfänglich das Gewissen. James Stewart trägt den Rollennamen Ransom Stoddard. Ransom Stoddard ist ein radikaler Pazifist, er vertritt zusätzlich eine willensstarke Moral innerhalb einer gedanklichen Illusion. Stoddard befindet sich in einer ausweglosen Lage: Liberty Valance, gefürchteter Schwerklassenbandit (Lee Marvin), macht ein kleines Fleckchen Westernlandschaft unsicher. Er handelt diametral zu Stoddard. Wie ist ihm beizukommen? Mit dem Gesetzbuch? Oder mit dem Colt? Die Diskurshaftigkeit der Geschichte, die sich dank eines mehrdimensionalen Mikroausschnitts der Kleinstadtdemografie darin parabolisch und antithetisch abzeichnet, kondensiert im Revolverduell zwischen einer utopischen Friedensbestrebung (Stoddard) und skrupelloser Strenge (Marvin). Stoddard knickt weg und humpelt zur Seite, tappt ängstlich und angespannt seinem Widersacher vor die Knarre. Eine bedeutungsaufgeladene Metapher. Das (wacklige) Recht kann nicht gewinnen – obschon Stoddard, der ehrliche Rechtevertreter, zuvor sein Geschäftsschild in Rage abgeschossen hat. In einem Klima, in der die Überzeugung zu töten, Fuß gefasst hat, seit sich auf dem Feldstaub ein Holzgebäude erhob, muss früher oder später theoretisches Recht zum fehlgeleiteten Aktionismus werden. Stoddard will unbedingt schießen. Aus Rache.

Der leicht affirmativen Tendenz des Films, dass Gewalt (und nicht nur Bildung) unausweichlich sei, um eine annähernd optimistische Veränderung der aktuellen Befindlichkeit zu gewährleisten, muss man nicht teilen. Trotzdem trivialisiert John Fords spätwehmütiger Western „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ nicht. Während des mühsamen, aber ebenso allmählichen wie unabdingbaren Industrialisierungsvorganges, für den Stoddard ein Konterfei im übertragenen Sinn repräsentiert (er fordert Aufklärung, Zivilbildung, Wertneutralität), wirkt seine erste und letzte, schwerwiegendste und verzweifelt konservative (Waffen-)Konfrontation gegen Liberty Valance, der in seiner Charakteristik des veraltet draufschlagenden Halunken gleichfalls übermannt wurde vom Fortschreiben der unübersichtlicheren Moderne, als kaum mehr heroischer Abgesang auf den Abschied verschwommener Mythen und grobmaschiger Ideale. Was jetzt lenkt, sind keine Drohungen und Faustkämpfe. Mit dem Körper teilt es keine Gemeinsamkeit mehr. Sondern mit dem Kompromiss des Intellekts. Stoddard erzählt seine Geschichte zu Beginn des Films einer Ansammlung Berichterstatter. Aber der Unterschied der Zeit von früher, die er offenherzig zu beleben weiß, und heute klafft derart befremdend auseinander, dass die Menschen seiner Chronik hinreichend frohgemut sind, nicht von der Zukunft zu fantasieren, als davon, das nächste durchgebratene Steak auf dem Teller serviert zu bekommen.

Ab sofort werden die Kämpfe, Auseinandersetzungen, Anfeindungen, Ressentiments und Dispute verlegt – in einen ausgetrockneten Gemeinschaftssaal, staub-, blut- und sandbefreit, transkribiert in eine (andere) Suggestivsprache der Überzeugung. Technologisch fortgeschritten, demokratisch organisiert, human und nostalgisch. Es wäre falsch, „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ per se als schwärmerisch denn unpolitisch zu empfinden, denn Ford verbreitert eine essenzielle Zeitenwende denkbar politisch in ein Sinnieren über Legenden, Wurzeln und gestandene Helden, denen die Eigendynamik der Erzählung geholfen hat, zur Unsterblichkeit zu gelangen, ganz gleich, ob sie, die Erzählung, „wahr“ oder „falsch“ scheint. Helden, die gibt es mit dem Einzug der Zivilisation nicht mehr. Groschenromanhelden und Märchenmärtyrer, das ist vergangen, das ist Erzählstoff. Ist Ransom Stoddard ein Held? Nein. Er hat nicht einmal selbst geschossen. Er ist nicht der Mann, der Liberty Valance erschoss. Er ist nicht derjenige, der den Ruhm genießen sollte, das Prestige, die Verbeugung. Er ist der falsche. Er ist nicht zum Helden gereift, er wurde zum Helden verklärt. John Ford demontiert das Heldentum der alten Welt – auf ihm bauen sich die Lügen der neuen auf. Der Altmeister tat sein Bestes, aus Genrefilmen Wirklichkeiten zu abstrahieren. Diesmal stellt er die Frage dem Kino andersherum: Bergen geschaffene Erdichtungen einen Beweis für historische Wahrheiten?

Ingmar Bergman, François Truffaut und Martin Scorsese gehörten und gehören der großzügig prominenten Fangemeinschaft John Fords an. Wenngleich Ford, wie Truffaut schrieb, nie den Worten „Kunst“ und „Poesie“ traute, um eigenhändig seine Arbeit zu umschreiben, dürfte es den winzigen Moment eines Augenzwinkerns erfüllen, den (inflationären) Kunst- und Poesiestempel allein diesem schwindelerregend tiefschönen, reflexiven und gramgebeugten Werk „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ aufzudrücken, in dem John Wayne und James Stewart als Abgesandte im Duett ein Genre zweiteilen und es obendrein hinterfragen. Wahrscheinlich konnte John Ford als einer der wenigen Künstler simpel filmen, aber anspruchsvoll vermitteln. Ein im Lauf der Zeit verlottertes Credo, das andere, leider, zunehmend umdrehen. Aber wie handwerklich griffig und alarmierend mitmenschlich er James Stewart und Vera Miles arrangiert; ihr zugeworfener Blick, flüchtig, seiden, sein Tellerabwaschen, stockend, agil, weil die Bücher rufen, das Gesetz. Das bebt, seufzt, zittert. Man weiß prompt, was Sache, was gemeint ist, was zupackt, was bannt. Auch das abgebrannte Haus des Freundes und Gefährten (Wayne), die mitgebrachte Rose, die keine richtige ist, die fetten Fleischstücke, die riesigen Kartoffeln, der sachte aufdämmernde Klageschwall, komponiert von Cyril J. Mockridge, gebären, bei aller Liebe zum Neuen, Demut zum Alten.

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