Die Tunnel in den Werken Hayao Miyazakis sind immerzu lang, immerzu schmal, immerzu verliert sich das Licht in ihnen und Dunkelheit bricht herein. In „Chihiros Reise ins Zauberland“ meint der Tunnel als Geburtskanal jeder Idee vor allem den Anbeginn einer neuen Reise und das Ende einer vorherigen. Auf dem Weg in ihr neues Heim sucht eine Familie den richtigen Weg, doch findet einen verlassenen Vergnügungspark, in dem das Essen noch qualmt und die Stühle noch warm sind. Fisch, Fleisch, Obst, Gemüse liegen prall auf den Ständen, die ein Publikum besuchen würde, wenn es vom Spaß genug hätte oder der Hunger zu groß würde. Das zehnjährige Mädchen dieser Familie, Chihiro, traut alledem nicht – die Völlerei verlockt sie nicht, ihr schwant etwas. Der Horror des nunmehr nicht mehr vergnüglichen Parkes strahlt bei Nacht aus: Die Eltern verwandeln sich in fressende Schweine, Schatten streifen um die Häuser, Frösche aus Stein spucken Wasser. In der Ferne glitzert eine Fähre. Sie kommt näher und näher. Mit der Fähre sickert aber auch Licht durch Chihiro. Sie ist unsichtbar. Männer in Masken strömen aus, auf der Suche nach dem stinkenden Menschenkind – Geister der Nacht. Hayao Miyazaki eröffnet die unsichtbare Welt des Albtraums mittels so kraftvoll ausschwärmender Dramaturgie, dass er gleichzeitig Schwelgen und Zittern lehrt. Dieser Tunnel, der sich auch immerzu in jeder Sichtung eines Miyazaki präsentiert, erlebt ein Zaudern in der Magie. Denn der Schrecken drängt das Fantastische zunächst nieder.
Welch fulminantes Schrecken es aber auch in „Chihiros Reise ins Zauberland“ zu entdecken gilt: komische Männer (Yōkai) mit sechs spinnenartigen Armen, die sich beliebig ausdehnen; runde, fellige Rußflöhe (die sogenannten Susuwatari), die Kohle scheffeln und bunte Sterne essen; mächtige Walrösser mit Reisschalen auf dem Kopf; nörgelnde Türklopfer; Münder, die wie Reisverschlüsse vom plappernden Wort abgehalten werden; grüne, ploppende Köpfe, die über Fußböden rollen; riesige Kinderfüße riesiger Kinder, die Wände eintreten; Schriftzeichen, die sich vom Papier ablösen und Papiervögel, die ihre Reise als Späher antreten; wandelnde Laternen auf einem Bein … Eine kunterbunte Fanfare an die Imagination und den wilden Entdeckungsdrang der Kindheit und Jugend entbrennt in wenigen Minuten mittels sanft drangsalierender Striche und Formen, die anderswo ziemlich gefällig-hübscher Terror wären. Hayao Miyazaki verlässt jedoch sein schon ausgeklügeltes System des Schönen und der putzig-dicken Tierleiber (man denke nur an „Mein Nachbar Totoro“ aus dem Jahre 1988, als zwei Mädchen Freundschaft mit einem pelzigen Waldgeist schließen). Stattdessen ringt ein beinahe leibhafter Action-Thriller die kleine Chihiro im Prolog nieder, was später minimale Probleme äußert, da der Film sich selbst sogar bremsen muss, weil er schwer an sich halten kann. Wie Miyazaki seinen Film selbst immer und immer wieder über Bord stößt, ist allerdings geradezu wundervoll zu beobachten und zu erleben. Eben wie die eigene Kindheit rauscht „Chihiros Reise ins Zauberland“ vor den Augen vorbei in die Welt: seltsam, grenzenlos schön. Und ein wenig beleibt ob der immensen Ideenvielfalt, welche Miyazaki unter der wie immer sausenden musikalischen Untermalung durch Joe Hisaishi ausdrückt.
Allein die Staffage reibt sich schon mit Urgewalt an alten japanischen sowie westlich geprägten Mythen und dem modernen, menschlichen Kapitalismusstaat aus Gier und Macht auf. In dem Reich Aburaya soll Chihiro in einem Badehaus – es gleicht einer Kapelle der Dekadenz und maßlosen Willkür – unter der Hexe Yubaba schuften, damit sie dadurch ihre Eltern aus der selbst erwählten Versklavung und ihrer Schweineform retten kann. Und was sich dort an diesem Hort des eigentlichen Wohlbefindens tummelt: Menschen, die nur noch als Tiere existieren; Tiere, die zu Menschen wurden. Ihnen allen gemein ist der Zwang zu arbeiten, um überhaupt eine Daseinsberechtigung in der magisch-fanatischen Unterwelt zu erhalten. Acht Millionen Götter wollen schließlich ausufernd umsorgt werden, in prächtigen Planschbecken, Saunalandschaften, aus Schlamm will wieder Glanz perlen und das Böse sofern nötig ausgetrieben werden. In all der Ungunst soll nun Chihiro eine Lösung aus der Misere finden, obwohl ihr zunächst nicht klar ist, was es mit dem Regime um Yubaba auf sich hat. Eine helfende Hand findet sich daher (als beinahe einziges Vergleichselement zum immerzu kuschligen Disneyzirkus und -kanon) doch recht schnell: Haku nämlich, ebenso ein Menschenkind, schärft ihr ein, wohin sie zu gehen und was sie zu tun hat. Die vollendete Kraft des Hayao Miyazaki spinnt später aus eben jener erst zweckmäßigen Freundschaft. Als Haku die Hilfe Chihiros benötigt, ist sie da. Dieser unbedingte Wille zur Aufopferung, unnötig komplizierte Verstrickungen aus Kinder- und Erwachsenenwelt aufbrechen zu lassen und dafür ein Netz aus tatsächlich realer Systemkritik und Naturalismus zu spinnen: All das ist Miyazaki. Schon immer, aber hier manchmal noch mehr.
„Chihiros Reise ins Zauberland“ lässt dazu noch gedeihen, was ein wenig aus der Märchen frisierten westlichen Kinderstube stammt: reine Liebe. Sehr spät entsteht einmal ein wundervoll simpler, vom Speck befreiter und vollkommen natürlicher Dialog. Chihiro kniet da am Körper des verletzten Haku, redet ihm zu, weint, windet sich; und der sechsarmige Kesselwärter Kamaji (ein offenkundiges Sinnbild für die Arbeitswut Miyazakis) fragt: „Was geht hier vor sich?“ Nicht Chihiro antwortet ihm, sondern das Mensch gewordene Wiesel Lin: „Siehst du das nicht? Man nennt es Liebe.“ Es spricht für die hohe Schule Miyazakis und gleichsam seinen Ernst, selbst halben Kindern die Welt in wahnwitzigen, gewieften Facetten zu erklären. Wie schon immer bricht auch aus Chihiro das surreale Wilde, bis es Alltag wird und die Symbiose zur Realität schafft. Denn wo noch erleben wir die Abenteuer unserer kindlichen Seelen so unverhofft liebevoll gebündelt wie im Œuvre dieses jungen doch eigentlich alten Unerschütterlichen, der versteht, dass auch Gewalt notwendiges Mittel ist, um Kinderaugen die wahren Träume zu zeigen? Es sollte dabei nur eine Geschichte für den Abenteuergeist der zehnjährigen Mädchen überall auf der Welt werden. Natürlich wurde es mehr. Viel mehr. So viel mehr, dass jeder Charakter Yin und Yang zugleich ist. Selbst Chihiro nimmt durch den Vertrag mit Yubaba das Ich dieser Schein(unter)welt an und heißt fortan Sen. Vergisst sie ihren wahren Namen, muss sie für immer in Aburaya weilen. Ein natürliches Grauen, fernab von gedeichselten, unbedeuteten Spielen; ein bisschen Märchen, aber machtvoll genug, ganze Berge zu versetzen.
Pass auf deinen Namen auf: Denn er ist Identität und Erinnerung. Als Haku seinen endlich nochmals entdeckt, flüchten seine Drachenschuppen im Wind und der wiedergefundene Mensch fliegt mit Chihiro in die Freiheit. Hinaus aus dem scheinbaren Vergnügen der Götter, hinein in die Zukunft der Menschen. Eine neue Reise wartet am Ende des Tunnels. Und eine neue Reise meint auch immer einen neuen Film des Königs aller Märchenerzähler, Hayao Miyazaki. Obwohl auch jetzt für ihn die Reise endet: Jene des Studio Ghibli scheint erst zu beginnen. Hoffentlich, wahrscheinlich. Vielleicht aber möchte Miyazaki auch sagen: Bleibe für immer im Inneren Kind, damit du deinen Namen nie verlierst.
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