Und wieder begeben wir uns gerne in ein tolles, fantastisches Abenteuer von Hayao Miyazaki – basierend auf einer Romanvorlage der Kinderbuchautorin Eiko Kadono –, das nochmals besonders persönliche Noten trägt und diesmal in seiner Funktion als wunderschöner Motivationsfilm arbeitet. Es fängt schon mit der bloßen Idee an, dass Hexen unter uns leben, aber nicht etwa so Böse und Schaurige aus dem Grimm’schen Märchenbuch, sondern die Guten und Hilfreichen. Das harmoniert schon mit dem Gesamtkonzept von „Kikis kleinem Lieferservice“ an sich, da (sehr wichtig!) keinerlei Antagonisten unsere Protagonistin und ihr Handeln antreiben, sondern ihr eigener Drang nach persönlicher Erfüllung. Da kann die titelgebende Kleine schon von Grund auf auf die überwältigend lieben Mitbürger jener Welt zählen, aber sie ist ja auch vorher schon kaum zu stoppen! Der werte Leser muss nämlich wissen, dass angehende Hexen mit dem dreizehnten Lebensjahr schon von zu Hause ausziehen, um ein Jahr lang eine Ausbildung in der Stadt ihrer Wahl zu absolvieren, damit sie sich als wahre Hexen behaupten können.

Unsere Kiki kann es kaum noch erwarten und so entschließt sie sich – da sich bei Vollmond und klarem Nachthimmel endlich die Gelegenheit dazu bietet –, zusammen mit ihrem sprechenden Kater Jiji, Abschied von ihrer zuversichtlichen Familie und ihren Freunden zu nehmen. Und los geht’s, am liebsten zu einer Stadt ans Meer! Auf dem Weg in die aufregende Zukunft begegnet sie sogar einer anderen Hexe, die schon ihr Spezialgebiet in Wahrsagerei und Liebeszauber gefunden hat. Kiki selbst hat noch keine rechte Idee, was sie denn genau machen will, aber die Euphorie bleibt ungebrochen. Bei plötzlichem Regenfall übernachtet sie in einem Zug und findet sich am frühen Morgen just wie gewünscht an einer wunderbaren Stadt am Meer wieder, die Miyazaki seinen Impressionen von europäischen Städten, speziell vom schwedischen Visby, nachempfunden hat. Ein herrlicher Ort ist das, so strahlend, voller Geschichte in den Backsteinmauern und vor allem voll mit Menschen und Autos! Da kommt Kiki noch nicht so ganz zurecht, handelt sich sogar mit ihrem Besen ein bisschen Ärger beim Gesetz ein, doch da hilft ihr der junge Tombo aus der Patsche, der schnell von ihr zu schwärmen beginnt, auch wenn sie ihn etwas ungehobelt und taktlos findet.

Aber unabhängig davon kommen Kiki und Jiji schon die ersten Zweifel, was sie überhaupt hier machen könnten – vor allem die Kleine weiß eben einfach noch nicht wohin, findet so auf eigene Faust ohne Eltern keine Wohnung, besitzt zudem nur wenig Geld und Essen. Wer einmal in seinem Leben woanders hingezogen ist, kennt dieses Gefühl auch, wenn man sich einfach schier unsicher ist, wie man zurechtkommen soll oder überhaupt irgendetwas anfängt, ganz besonders dann, wenn man jung, quasi neu in der Welt unterwegs ist. Für Kiki ist das dann noch mal besonders anstrengend, in der frühen Jugend schon so auf eigenen Beinen stehend. Doch hier kommt die Rettung schnell per Zufall! Eine Frau hat nämlich bei der Bäckerin Osono den Schnuller ihres Babys vergessen und da hilft Kiki schnell aus, kommt im Flug zur gelieferten Hilfe und kehrt mit der Dankesnachricht zu Osono zurück. Die möchte sich für diese Nettigkeit sodann ebenso dankbar zeigen und lädt Kiki, die ihr ihre Umstände bescheiden geschildert hat, zum Bleiben im Gästehaus ein, wo jeden Morgen die schönste Sonne über das weite Meer vor der Haustür hineinstrahlt.

Das beflügelt unsere kleine Heldin so sehr, dass sie sich bald entschließt, im Sinne der Ausbildung ihrer Hexen-Fähigkeiten einen kleinen Lieferservice aufzumachen – da hat sie sich ja nämlich schon gut bewährt und Osono greift ihr da gehörig unter die Arme. Solch liebe Gönner sind für den Anfang eben immer ganz gut, so was erhofft man sich auch mal gerne in der realen Welt. Jedenfalls flattert da schon der erste richtige Auftrag rein und so soll sie einen Stoffkater zum Neffen einer Kundin aufs Land bringen. Auf dem Weg dorthin landet sie jedoch durch eine Böe im Wald und ein paar Krähen halten sie deshalb für eine Eierdiebin, wie ihr Jiji versichert. Sie kann entkommen, doch das Stofftier fehlt, weshalb kurzfristig Jiji selbst einspringen muss, bis Kiki nach der Ablieferung das Original wiedergefunden hat. Das befindet sich nämlich in der Hütte der Malerin Ursula, mit der sich Kiki sodann anfreundet und die sie bei Gelegenheit mal einladen will, für sie Modell zu stehen – jetzt heißt es für Kiki aber erstmal zurück zur Bäckerei, wo schon am nächsten Tag nach einer längeren, demotivierenden Wartepause doch noch ein paar weitere Aufträge eintrudeln.

Der Junge Tombo will sie zudem auf eine Einweihungs-Party einladen, das überlegt sie sich noch – in Wirklichkeit jedoch will sie schon wirklich gerne hin, ist sogar unentschlossen darüber, was sie anziehen soll. Irgendwie will sie ja nämlich doch noch den Anschluss ans jugendliche Leben außerhalb der Arbeit schaffen, von dem sie sich ja schon etwas ausgegrenzt fühlt. Vorher jedoch landet sie bei einer lieben alten Dame, die für ihre Enkelin eine Herings-Pastete liefern wollte, doch der Elektro-Ofen will einfach nicht anspringen. Die Dame will Kiki schon mit dem Geld dankend nach Hause schicken, doch da ist sie so selbstlos und hilft mit, die Pastete im Holzofen zu backen – schließlich will sie sich ja das Geld ehrlich verdienen –, was dann auch gelingt. Aber es läuft wieder nicht so glatt: Die schon etwas reifere Enkelin hat keinen Bock auf Pastete und dafür musste Kiki auch noch durch den plötzlichen Regen fliegen. Fiese Sache – da fängt sie sich sogar einen Schnupfen ein und muss das Geschäft für einen Tag lang zu lassen.

Doch sobald sie wieder auf den Beinen ist, wird sie von Osono mit einer Lieferung zum Haus von Tombo geschickt – der wollte Kiki zuvor nämlich schon besuchen kommen, aber da konnte sie ja bekanntlich nicht. Jedenfalls zeigt er ihr etwas, das wiederum eine ausgeprägte, persönliche Leidenschaft Miyazakis wieder zum Ausdruck bringt und Tombo quasi zum Alter Ego umfunktioniert: Der junge Mann ist nämlich so begeistert vom Fliegen, dass er ein fliegendes Fahrrad erbaut hat – kein Wunder also, dass er Kiki mit ihrem Zauber so klasse findet; Miyazaki macht es ihm ja durchwegs gleich in der glückseligen, farbenfrohen Zelebration ihres Wesens und des malerischen Fluges. Tombo möchte da natürlich auf einer Wellenlänge mit ihr sein und probiert einen gemeinsamen Testflug – was ein bisschen turbulent schiefgeht, aber der clevere, gewitzte Kerl wird ihr schon sympathisch. Als dann aber seine Freunde herumkommen, um das große Luftschiff Spirit of Freedom zu besichtigen, trotzt sie von dannen, wieder mit dem Gedanken der Arbeit im Hinterkopf und der langsam einsetzenden Gewissheit, dass sie wohl nicht mehr dazugehören kann – ist vielleicht ein bisschen jugendlich-naiv von ihr, aber schon eine bittere Angelegenheit.

Die verschlimmert sich jedoch noch mehr, als ihr Zauber langsam zu schwinden beginnt, sie nicht mehr mit Jiji sprechen und nicht mehr mit dem Besen fliegen kann, welchen sie bei verzweifelten Flugübungen sogar zerbricht. Worst Case Scenario, sprich: Die Magie der Kindheit beziehungsweise der Enthusiasmus der eigenen Fähigkeiten ist im Eimer, scheinbar verloren – eine blanke Sinnkrise, für jemanden im Wandel von der Adoleszenz zum Erwachsensein schon harter Stoff, doch ebenso auf alle herunterziehenden Lebenssituationen adaptierbar. Aber im Karma dieser Zeichentrickwelt ist das auch nur eine Zwischenstation zur Erkennung und Erbauung der starken Persönlichkeit, schließlich kommt eines Tages Ursula aus eigenem Antrieb bei Kiki vorbei und lenkt sie von ihrem Trübsal ab, zeigt ihr die tolle Gegend, bringt wieder die unbedarfte Lebensfreude in den Alltag und lädt sie endlich darauf ein, für sie Modell zu stehen.

Und da trifft Kiki der Schlag, als sie ein atemberaubendes Gemälde von Ursula erblickt, auf dem sie fliegende Fabelwesen festgehalten hat, die niemand Geringeren als Kiki selbst repräsentieren sollen. In jenen Schlüsselmomenten stellt Miyazaki eine direkte Brücke zu seiner Hauptfigur als Künstler her, der ihr auf die Beine hilft, anhand der Vertretung Ursula. Die erklärt das schlicht so, dass Malerei und Zauberei sich ganz ähnlich sind, dass sie auch manchmal Zeiten hat, in denen nix gelingen mag, wenn man in seiner Kunst teilweise nicht weiter weiß. Dann lässt man sich aber eben ein bisschen gehen, sammelt neue Erfahrungen und urplötzlich kommt man wieder, wenn man es am wenigsten erwartet, auf einen Impuls, der den eigenen Zauber wieder entfacht – und sei es auch nur, wenn sie sieht, wie traurig Kiki ist. Wenn das mal keine Botschaft vom Schöpfer selber ist, der seine Figuren (oder wie er sie auch nennt: seine Kinder) schlichtweg liebt, leben lässt und für sich selbst gewinnen sehen will.

Kiki hat eben nur eine kreative Blockade, das nimmt sie sich zu Herzen und besucht nochmals die alte Dame von ein paar Tagen zuvor, die sich für ihre dortige Hilfe nun mit einem Kuchen bedankt, auf dem die Silhouette einer fliegenden Hexe und der Name Kiki darunter steht. Bei solch einer rührenden und aufbauenden Geste kommen verständlicher Weise nicht nur Kiki die Tränen. Doch dann wird Kiki von der Stunde der Wahrheit gerufen, als das Luftschiff bei seinem Abflug vom Sturm getroffen wird und Tombo am letzten Seil hängend mitreißt. Jetzt gilt es für sie, sich wieder zu beweisen und schnappt sich den Besen eines zuschauenden Passanten – und tatsächlich entdeckt sie ihre Kräfte wieder, rettet den Tag und erfüllt ihr eigenes Glück zusammen mit ihren Mitmenschen. Klingt irgendwie auch wie eine astreine Superman-Geschichte, oder? Genauso wie jener Kryptonier zum Beispiel in Zack Snyders „Man of Steel“ seinen Platz und seine Funktion auf der Erde sucht, dabei ohnehin die Freude des Fliegens findet und wiederfindet, geschieht hier bei Miyazaki ebenso, wenn auch nur mit einem Bruchteil an Zerstörung, aber nicht weniger Selbstzweifeln. Aber die zu überwinden und das Vertrauen, die Liebe der Menschen zu erlangen, ist in jenen beiden mythologisch-geerdeten Geschichten ein erstrebenswertes Ziel. In diesem Fall sind aber schon alle Faktoren von vornherein einladend für unsere Heldin, sie hadert eben nur mit den ersten Schritten der Selbstständigkeit und dem Umstand, dass manchmal eben nicht alles so glatt abläuft wie man’s gerne haben möchte.

Miyazaki macht daraus allerdings auch keine große Tragödie, dafür ist sein Ensemble und sein Setting schon so zuckersüß und kinderfreundlich, dass wahrlich finstere Tiefen gar nicht eingesetzt werden müssen. Allein dass ganz simpel und höchst menschlich Sachen schiefgehen oder man mal groggy ist, reicht schon vollkommen, um diese dunkelblauen Dellen am Fluss der ausgelassenen Fröhlichkeiten und bedingungslosen Nettigkeiten nachvollziehen zu können (Joe Hisaishis Score holt da sowieso noch ultra-drollige Emotionspower heraus). Umso erbauender ist dann die Gewissheit, dass wir uns dann immer auf unsere Freunde und andere hilfsbereite Menschen verlassen können, wenn mal Not am Mann ist oder nichts so recht gelingen mag, wenn man schlicht einen miserablen Tag hat oder eben ganz direkt nicht mit seiner eigenen Wunsch-Funktion im Leben zurechtkommt: Man wird’s schon überstehen und dafür muss man schlicht an die guten, einfachen, an die genüsslichen und lebensnahen Sachen im Wirken und Dasein denken, um Poesie und Glück zu erfahren – oder auch schlicht einen verzaubernden und Fantasie-erquickenden Film aus dem Studio Ghibli schauen, der einen immer wieder aufzubauen weiß, egal, wie trüb einem auch ist. Und da ist „Kikis kleiner Lieferservice“ eine leichtherzige Wucht für die Ewigkeit.

Meinungen

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