Am Ende sticht er sich in der Toilette die Augen aus, während seine Liebe am Essenstisch wartet. Ein Bild, das dieses Jahr auch im übertragenen Sinne bestimmte, weil es den Ursprung dessen kennzeichnet, was wir Film nennen: das Gefühl der Entgleisung, der würgenden Kälte, das Gefühl, am Nabel in die Dunkelheit gestoßen zu werden und dort, langsam, jämmerlich, zu verenden. Die Regisseure und Autoren meinten es wahrlich nicht gut mit uns. Aber an den Prüfungen, die sie uns auferlegten, durften wir gleichsam wachsen. Denn Film sollte keine Wohlfühlfabrik sein und keine heiße Schokolade – obwohl uns dies weisgemacht wird. Wie der eingangs erwähnte Mann müssen nämlich auch wir wagen, das Sehen erst einzubüßen, um schließlich, auf andere Weise, zu unserer Liebe und zu unseren Ursprüngen zurückzufinden. Manchmal sogar bluten wir unter dieser Prämisse; wenn es auch nur Tränen sind. In folgender langer Liste, welche die beeindruckendsten Werke dieses Filmjahres zu bündeln versucht, steckt demnach nicht nur Schweiß, nicht nur Ohrenschmalz, nicht nur Luft, nicht nur Popcorn, nicht nur von glücklichen Kühen verarbeitetes Rinderhackfleisch, das in unsere Hamburger geriet. Es steckt vor allem ein Kuss darin, für jede Sekunde, der wir Kino in seiner fernsten, brennendsten, anstößigsten, schönsten Form beiwohnen durften.

Jenem Kuss gingen Algorithmen und Statistiken voraus, die einen Konsens innerhalb der Redaktion zu finden suchten. Natürlich aber beschreiben Zahlen nur unzureichend, warum wir abermals, und in großem Stil, dem Aphrodisiakum Film verfallen sind. Zahlen allerdings ordnen, was wir emotional eigentlich nicht zu ordnen vermögen. Und was stattdessen nicht mit Zahlen zu ordnen ist, ordnen wir in Wörtern und in Bildern. Selbst mit ausgestoßenen Augen, selbst blind. Christian Friedrich Hebbel sagte immerhin: „Der Mensch ist ein Blinder, der vom Sehen träumt.“ Nur wir eben, wir träumen nicht vom Sehen – wir träumen vom Film. Noch immer, für hoffentlich viele weitere Jahre.

(Diese Liste berücksichtigt in Deutschland zwischen dem 1. Januar und 31. Dezember 2015 im Kino oder erstmals im Heimkino veröffentlichte Filme, sowie solche, die auf einem Festival gezeigt wurden und keinen Starttermin aufweisen. Ebenso enthalten sind Filme, deren Termin erst nach dem 1. Dezember für das Jahr 2016 festgesetzt wurde.)

25. The Duke of Burgundy

Szene aus „The Duke of Burgundy“ © Salzgeber & Co. Medien GmbH

Szene aus „The Duke of Burgundy“ © Salzgeber & Co. Medien GmbH

In Peter Stricklands „The Duke of Burgundy“ wächst ein Film, der trotz seines synthetischen, artifiziellen Charakters eine unhaltbare, organische Lawine über die Essenz der Liebe lostritt. Nicht über konkrete Dynamiken, nicht über radikale Tendenzen. Sondern über einen Geist, der uns mit Nadeln im Schaukasten hält; uns sehen, aber niemals berühren lässt, was außerhalb des kleinen Gefängnisses ums Kerzenlicht flattert. Eine Flucht ist ausweglos bei einem Film, der unentwegt flüstert: Pinastri. Und in jenem Safeword einen Rückzugsort sucht, welches um die menschliche Natur transzendiert. Der Kokon des Menschen ist die wohl größte Täuschung; ein Ausbruch möglich, aber schwer. Nichts anderes ist daher auch Stricklands dritter Spielfilm nach „Katalin Varga“ und „Berberian Sound Studio“: eine streng halluzinatorische, olfaktorische Fiktion, die sich über die Sinne in den Geist tanzt.

24. Son of Saul

Szene aus „Son of Saul“ © Sony Pictures Classics

Szene aus „Son of Saul“ © Sony Pictures Classics

Geradeaus und quer hindurch, an Schreien und Gebrüll vorbei, gesichtslos zur Tat schreitend. So erlebt man in „Son of Saul“, mit starrem Blick auf die Rücken des Spezialkommandos, den Einstieg in den Horror des Holocausts. Ringsum verlaufen Plansequenzen des Grauens in extremer und dennoch transparenter Unschärfe, die der ungarische Jude Saul im Arbeitsablauf von Auschwitz unter deutscher Kontrolle auszublenden versucht. Im Debütwerk von László Nemes ist Selbstschutz ein hohes, doch vergängliches Gut, das trotz aller Mühen nicht verhindern kann, Menschlichkeit in der Anpassung zum Massenmord abzuwetzen. Die Spannung steigt permanent in beengten Räumen, die sich mit Leichen füllen, welche so schnell wie möglich von ihren Leidensgenossen entsorgt werden sollen. Diese filmische Macht zieht trotz bekannter Thematik in vollen Zügen hinunter zum Verständnis am Rande der Existenz.

23. El Club

Szene aus „El Club“ © Piffl Medien GmbH

Szene aus „El Club“ © Piffl Medien GmbH

Selten finden Werke ihren Weg auf die Leinwand, bei denen einem durch bloße Wörter schlecht wird. Pablo Larraíns „El Club“ fordert in dieser Radikalität ein (wenig wirksames) dickes Fell, ohne explizite Bilder einsetzen oder Dramatisierungen betreiben zu müssen. Allein das Kopfkino bestimmt die Furcht; genauso wie das beängstigende Schauspiel von Wölfen im Schafspelz, die indoktrinierten Regeln folgen und nur im Ansatz ausbrechen, aber umso tiefer aufschlagen, je mehr Unschuld durch sie zerbricht. Wird es eine späte Einsicht geben – und kann diese zufriedenstellend sein? Und inwiefern darf sie erzwungen werden? Dies lässt sich im Endeffekt nicht eindeutig sagen. Wer jedoch auf eine derart ungemütliche wie lohnende Erfahrung Wert legt, erlebt hier eine Passion von Film, die kaum angemessener inszeniert werden könnte.

22. Steve Jobs

Szene aus „Steve Jobs“ © Universal Pictures International Germany GmbH

Szene aus „Steve Jobs“ © Universal Pictures International Germany GmbH

Dieser Film ist ein Steak, und dieser Film ist mit Messer und Gabel zu genießen – während die Seiten stechen und der Atem rasselt, das Herz pocht und die Pepsi zur Neige geht. Doch eigentlich ist dieser Film ein Feuerball, in Form eines klassischen Dreiakters, mit Theater in den Blutbahnen und Konfrontation in den Synopsen, hölzern, kalkuliert, pointiert. Eine Tortur, nicht interessiert an Fakten, Wahrheiten oder Botschaften, ausschließlich epochal, natürlich epochenübergreifend. Sie beginnt in einer Garage, aber es beginnt mit einem Lächeln. Beide beginnen in einem Orchestergraben, Daniel Pemberton wärmt seine immateriellen Musiker auf, derweil sich Steve und Steve balgen, und der Zuschauer als Voyeur in einer Ecke kauert, ob Rot oder Blau, egal. Wenn Steve Jobs stoppt, geht ein Licht an; wenn „Steve Jobs“ stoppt, rülpsen Texttafeln. Dann alles noch mal, Russisch Roulette auf Zelluloid.

21. Princess

Szene aus „Princess“ © Breaking Glass Pictures

Szene aus „Princess“ © Breaking Glass Pictures

Seelische Erschütterungen werden auf der Leinwand nicht entfacht, indem sie bloß betrachtet werden. Es gilt, Menschen um diese zu bauen und deren Erfahrungen zu veräußerlichen; ganz gleich, wie verletzlich sich der Zuschauer fühlen wird. Dafür muss der Schock nicht als Explosion daher kommen. Im Gegenteil: Die Implosion erzeugt eine Sogkraft der Verzweiflung, zu der man still in der Hölle residiert. Mit welcher Brutalität dies Herzen brechen und dennoch mit einer Menschlichkeit jenseits des Affekts inszeniert werden kann, beweist Tali Shalom-Ezer in ihrem Debüt „Princess“. Es ist ein Werk familiärer Tiefpunkte, aus der Dysfunktionalität der Verhältnisse – Resultat eines Zeitgeists, der für Gnade keine Luft und für Unschuld keine Zeit hat. Ein erzwungenes Coming of Age, das von innen und außen drückt, sowie eine Hypnose erwirkt, in der das Streben nach Frieden sein Ziel aus den Augen verliert.

20. Going Clear

Szene aus „Going Clear“ © HBO Documentary Films

Szene aus „Going Clear“ © HBO Documentary Films

Alex Gibneys „Going Clear“ rekonstruiert die Geschichte um Scientology und stellt über Interviews mit Aussteigern die Mechanismen der Misshandlung und Steuerhinterziehung innerhalb des Komplexes fest. Die Erzählung bleibt dabei bodenständig und geradlinig; enthüllt Dokumente, Tonaufnahmen, Videos, Notizen und Berichte von Zeitzeugen. Auf Objektivität kann sich jedoch niemand verlassen: Die Berichterstattung findet hauptsächlich von außen differenziert statt, offizielle Stellungnahmen der Vereinigung existieren nicht. Stattdessen werden kritische Stimmen bis zur Haustür verfolgt, beobachtet und online diffamiert – ein Psychoterror, bei dem jedes Hubbard-Elektroskop Alarm schlagen müsste. Gibney forscht der angeblichen Religion nach und offenbart Missstände, damit andere Menschen in Zukunft nicht von deren System ausgebeutet oder zu unmenschlichen Taten indoktriniert werden.

19. It Follows

Szene aus „It Follows“ © Weltkino Filmverleih

Szene aus „It Follows“ © Weltkino Filmverleih

Nichts an diesem aufgespannten Szenario ist neu oder gar sonderlich originell, außer der bittersüßen Prämisse vielleicht und gewiss einiger narrativer Effektivität. „It Follows“ bahnt das Coming-of-Age-Dickicht unter herben Synthesizern und dröhnend-raffinierter 8-Bit-Kulisse in ein abseitiges Märchen über Kontrolle und unbändigen Schauder. Glück hat, wer prüde bleibt. „It Follows“ überwältigt, weil er sprachlos bleibt und aus der Not eine Tugend kreiert. Wie schön doch ein ruppiger Sex-Tripper-Dämon hier die erste Liebe anstimmt. Das ist nicht nur old school, es ist faszinierend und ekstatisch-frisch, wenn auch grenzenlos elliptisch. Aber das waren die besten Filme dieses Genres ohnehin schon immer. Darin gelingt Mitchell auch ein Film für die Kinder der achtziger und neunziger Jahre, wo die Sehnsucht noch bei Dates im Kino mit Popcorn und Kola mitschwang.

18. Die Melodie des Meeres

Szene aus „Die Melodie des Meeres“ © KSM/24 Bilder

Szene aus „Die Melodie des Meeres“ © KSM/24 Bilder

Mit „Die Melodie des Meeres“ will Tomm Moore die irische Kultur ähnlich stilvoll einfangen wie Miyazaki die japanische in seinen Filmen. Und es gelingt ihm ausgezeichnet. Auch wem der kulturelle Hintergrund unbekannt ist, wird an ihn mit angenehmer Leichtigkeit herangeführt – über eine Geschichte, die herzerweichend ist. Vor allem aber entwirft Moore mit Saoirse einen ebenso süßen wie spannenden Charakter, der den Film auf unnachahmliche Art und Weise trägt. Allein das dramatische Finale und die wunderschöne Musik machen den Film mehr als nur sehenswert. So hart wie der Ruhestand von Hayao Miyazaki und Isao Takahata die 2D-Animation getroffen hat: Filme wie „Die Melodie des Meeres“ geben Hoffnung – und junge Filmemacher wie Tomm Moore sind ein wunderbares Zeichen dafür, dass diese Trickfilmkunst niemals aussterben wird.

17. National Gallery

Szene aus „National Gallery“ © Kool/Filmagentinnen

Szene aus „National Gallery“ © Kool/Filmagentinnen

Die Kamera observiert, geht auf Tuchfühlung, nimmt die Lupe, das Mikroskop, schwere Werkzeuge, hämmert, spachtelt, ritzt, repariert und pinselt ohne Ankündigung, Leitweg oder Markierung. Integriert: Grundierungsaufsätze davor und danach, versteht sich. Ausgewogen justiert auf eine wechselnde Lautstärke der Aktivitäten, wird dieses Museum, die antiquiert duftende „National Gallery“, als eine magnetisch anziehende Attraktionsverlockung zusammengepuzzelt, deren oberflächliche Statik, Eleganz und Dynamik des Gäste- und Kunstwerkemeers von der Derbheit, Verzweiflung und Exaktheit übertüncht wird, wie etwa den Schatten eines Bilderrahmens zu minimieren, den Firnis einer ungenügsamen Vorrestaurierung zu begutachten oder unliebsame Budgeteinsparungen zu besprechen. Kunst ist wohl doch auch Arbeit. Arbeit und Abenteuer.

16. Leviathan

Szene aus „Leviathan“ © Wild Bunch/Central

Szene aus „Leviathan“ © Wild Bunch/Central

Andrej Swjaginzews „Leviathan“ ist harte, russische Kost, die lange haften bleibt. Wenn Kolya (Aleksey Serebryakov) in der maritimen Landschaft in einer immer schwankenden Gefühlslage zwischen Überlebenswille, Liebe, Enttäuschung und Vergebung taumelnd auf subversive Grenzen trifft, immenser Alkoholismus die Leiden wellenartig verstärkt und lindert, dann bleibt ein äußerst flaues Unbehagen in der Luft. Der russische Regisseur ostendiert im Verlauf der Geschichte präzise, wie sich das ländliche, russische Leben abspielt. Er wirft aber keinen Hass an die Wände der Offiziellen, er zeigt eher die Unnahbarkeit der machtlosen, verarmenden Bürger, die in der Wildnis mit Gewehren auf eingerahmte Bilder von Lenin und Co. schießen und zerberstend an jene Wände klatschen wie das Meereswasser an die Klippen. Jeder Schatten wirft Licht und andersherum.

15. Erinnerungen an Marnie

Szene aus „Erinnerungen an Marnie“ © Gkids

Szene aus „Erinnerungen an Marnie“ © Gkids

Erinnerungen an Marnie“ zeichnet sich exakt durch das aus, was Ghibli über lange Zeit erfolgreich gemacht hat: einen wunderschönen Animationsstil, eine charmante Geschichte, tolle Musik und hervorragend ausgearbeitete Charaktere. Wieder einmal sind es starke weibliche Charaktere, die den Film auf unnachahmliche Art und Weise tragen. So auch die zwölfjährige Anna Sasaki, die ihre Eltern in jungen Jahren bei einem Autounfall verloren hat. Obwohl sich ihre Pflegeeltern mühevoll um sie kümmern, hat sie es nicht einfach: Anna eckt oft an, hat keine Freunde und leidet außerdem an Asthma. Ihre Pflegemutter hält es daher für eine gute Idee, Anna in den Sommerferien aufs Land zu schicken. Die Luft und die Ruhe vor der Großstadt sollen ihr gut tun. Aber genau wie in der Stadt fällt es Anna nicht leicht, Freundschaften zu schließen und verschreckt die anderen Kinder mit ihrer schroffen Art.

14. Alles steht Kopf

Szene aus „Alles steht Kopf“ © The Walt Disney Company Germany GmbH

Szene aus „Alles steht Kopf“ © The Walt Disney Company Germany GmbH

Das Herz wohnt überall in „Alles steht Kopf“: in jeder Emotion, in jeder Insel, in jedem Gedankengang, in jeder Inszenierung der Traumfabrik, in jedem Stadium des abstrakten Denkens, in jeder Knospe des Langzeitgedächtnisses, in jeder Spirale der Doppelhelixtreppe, die sich um Erinnerungen windet, als wären sie Bücherregale, in jeder Erinnerung, sei sie noch so sehr verblasst. Es ist kein filmisches Meisterwerk. Sondern ein Film, den wir in unserer Erinnerung, mit ihren Additionen und Subtraktionen, zum Meisterwerk küren können. Und was es nicht für ein Wunder ist, hinter die Fassade eines Menschen und in sein Hauptquartier zu spähen, wo sich fünf Emotionen am Rande des Nervenzusammenbruchs balgen! Die Kinder in uns werden niemals sterben. Und das ist gut so. Denn sie werden uns, um es mit Bing Bongs Worten zu sagen, zum Mond bringen – und vielleicht, wenn wir Glück haben, nie wieder zurück.

13. The Tribe

Szene aus „The Tribe“ © Rapid Eye Movies HE GmbH

Szene aus „The Tribe“ © Rapid Eye Movies HE GmbH

Der Blick von „The Tribe“ in das Leben gehörloser Schüler ist ein trister, unangenehmer und brutaler. Jede im Film vorkommende Szene wurde in einem Stück gefilmt, wobei die Kamera ein ruheloser Begleiter ist – ein stiller Voyeur. Dadurch fühlt man sich schnell als Mittäter. Das Geschehen ist nur einen Handgriff entfernt, aber die Kamera schreitet nicht ein: Sie filmt den Strudel aus Sex und Gewalt kommentarlos in intensiven und faszinierenden Einstellungen, die Slaboshpitsky ausnahmslos mit gehörlosen Laiendarstellern filmte. Als klar wird, dass es kein Entrinnen, keine Hoffnung gibt, tun sich Abgründe auf, obwohl dieser ukrainische Film trotz der Tristesse so gut wie nie aufgesetzt wirkt. Die schmale Grandwanderung ist ein voller Erfolg. Gewarnt sei man dennoch: Wer sich in der stillen Gewalt von „The Tribe“ verliert, geht das Risiko ein, danach schockiert und sprachlos den Kinosaal zu verlassen.

12. Birdman

Szene aus „Birdman“ © Twentieth Century Fox of Germany GmbH

Szene aus „Birdman“ © Twentieth Century Fox of Germany GmbH

Knapp zwei Stunden lang nimmt uns Alejandro González Iñárritu auf einem fließenden Ritt durch die Transformation im Theater mit, am Broadway entlang durch die Anstrengungen der Anerkennung und nicht nur psychischen Keilerei zur Eroberung der persönlichen Erfüllung. Denn in „Birdman“ wird für die künstlerische Klimax zwangsläufig ins Extrem gegangen, um die eigene Existenz, die Bedeutung und den Drang des Schaffens zu verteidigen, wie Phönix wieder aus der Asche zu steigen, notfalls auch in Flammen eingedeckt. Jene nervöse Energie zeichnet sich am abgehalfterten Schauspieler Riggan Thomas (Michael Keaton) ab, der sein Herzblut in die Adaption von Raymond Carvers „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ steckt, in Personalunion den Regisseur, Autor und Hauptdarsteller gibt, aber noch stets unter dem Schatten seiner cineastischen Vergangenheit als Kassenmagnet steht.

11. The Russian Woodpecker

Szene aus „The Russian Woodpecker“ © Roast Beef Productions

Szene aus „The Russian Woodpecker“ © Roast Beef Productions

Irgendwann, es dauert nicht einmal lang, ist Fedor Alexandrovich kein rehäugiger, irrer Bohème mehr, der, einem Komplott auf der Spur, durch die Ruinen Tschernobyls wandert. Sondern ein Jünger wohlweißlich abstrusester Wahrheiten, der mit nichts als Frischhaltefolie um den Leib und einer Fackel in der Hand gegen die Staatsmacht Russlands und der ehemaligen Sowjetunion wütet. Chad Garcia kurbelt in „The Russian Woodpecker“ jedoch nicht nur Verschwörungstheorien um das Radarsystem Duga und die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl an – er lässt uns inbrünstig glauben, dass die Manie Fedors keine Manie ist. Letztlich sprengt Garcias investigativer Dokumentarfilm die Kunst und die Kunst seiner Form. Der Glaube an Recht und Ordnung ist zu diesem Zeitpunkt längst dahin. Der Glaube an Fedors Wahnsinn aber blüht als cineastisches Manifest.

10. Jeder der fällt hat Flügel

Szene aus „Jeder der fällt hat Flügel“ © Cataract Vision

Szene aus „Jeder der fällt hat Flügel“ © Cataract Vision

Versunken im Mist – zwischen Schweinen, Blut und Heinrich Heines „Ich habe im Traum geweinet“ –, der durch die Bahnen des Kopfes fließt und diesen von innen zerdrückt. So beginnt die Reise des Regisseurs Peter Brunner durch eine abstrakt einschlagende Gefühlswelt, die sich auf ungewisse Pfade der Schmerzbewältigung begeben muss. In „Jeder der fällt hat Flügel“ sind Körper umgeben von unsichtbarer Gewalt, gedankenverloren in der Last des Verlusts, die in jener Härte nur innerhalb der Familie anzutreffen ist. Die filmische Balance zu halten, dem Sujet gerecht zu werden und bahnbrechendes Kino zu erschaffen, gelingt hier aus dem Herzen heraus, weil die Vermittlung eines Zustands ganz persönlicher Natur in aller Formvollendung und Geborgenheit geschieht. Die Sprache ist eigen und vertraut zugleich – und dermaßen außergewöhnlich, dass sie die ganze Welt, nicht nur die des Kinos, umstülpt.

9. A Girl Walks Home Alone At Night

Szene aus „A Girl Walks Home Alone At Night“ © Capelight/Koch Media/Central

Szene aus „A Girl Walks Home Alone At Night“ © Capelight/Koch Media/Central

Was schleicht da in der Einöde von Bad City herum, die mit ihren kargen Industrieanlagen und suburbanen Räumlichkeiten nur einen kleinen Kreis von Menschen an die Oberfläche hervorholt? Nun, nicht viel. Einen Hund und eine Katze kann man da an eigenwilligen Kreaturen zusammenzählen. Doch der Filmtitel „A Girl Walks Home Alone At Night“ kommt ja nicht von ungefähr: So lässt die iranische Regisseurin Ana Lily Amirpour doch noch etwas Abwegiges aus dieser kargen Semi-Gegenwart heraus purzeln. Die Lösung erscheint letzten Endes bitter und naiv zugleich, doch in diesem verblendenden Schlusspunkt überlebt zumindest der Wille zum Abwegigen und zur Nacht der endlosen Möglichkeiten – mit Vollgas zusammen in die undefinierte Zukunft hinein. Sich freizumachen bockt nun mal auch bei kleinem Budget, aber mit großer Schaffenslust.

8. Court

Szene aus „Court“ © Zoo Entertainment

Szene aus „Court“ © Zoo Entertainment

Das New Indian Cinema lebt! Und insbesondere Chaitanya Tamhanes Debüt „Court“ zeigt diesen Fakt mit offenen Augen, die sich keiner Kritik berauben und keiner Freiheit verwehren, obwohl beides im Indien der Jetztzeit noch immer zu kippen droht. Hier redet sich ein Folksänger um Kopf und Kragen – und landet vor Gericht, weil er einen Suizid durch seine Musik begünstigt haben soll. Seine Geschichte lässt sich in ebenso absurden wie skrupellosen Seitengasen eines antiquierten Systems nieder; manchmal mit einem Zwinkern, das ansonsten nur in nahen, herausragenden Dokumentarfilmen glüht. Der Tanz natürlich, er wirbelt auch durch „Court“. Nur anders. Tamhane ist mittlerweile achtundzwanzig Jahre alt. „Court“ ist sein Anfang, aber „Court“ ist zugleich sein Weckschrei – für eine Zukunft junger indischer Regisseure, die es nicht später zu beachten gilt. Sondern genau jetzt.

7. 45 Years

Szene aus „45 Years“ © Piffl Medien GmbH

Szene aus „45 Years“ © Piffl Medien GmbH

Selten brachte ein Film so deutlich zur Geltung, wie enorm wichtig auch die Körpersprache eines Schauspielers ist – Tom Courtenay, der sich zumeist im Hintergrund und auf den ersten Blick unauffällig bewegt, befindet sich durch seinen Gestus stets im Dialog mit der augenscheinlich fokussierten Charlotte Rampling. Kates zuerst widersprüchliche und irrationale Gefühle, die sich in einer eingebrannten, retrospektiven Eifersucht manifestieren, nachdem sie Parallelen zwischen ihr und der Jugendliebe ihres Mannes entdeckt, fängt Rampling in feinsten Nuancen exakt und treffsicher ein. Psychologisch klügstens ausgearbeitet, ist „45 Years“ auch ein zugleich nostalgischer Film, der zwei Heilige des Kinos der sechziger Jahre vereint und nicht nur dank des zutiefst bewegenden, finalen Monologes von Tom Courtenay zu einem der brillantesten, intelligentesten Dramen des Jahres gezählt werden darf.

6. Mad Max – Fury Road

Szene aus „Mad Max – Fury Road“ © Warner Bros. Pictures Germany

Szene aus „Mad Max – Fury Road“ © Warner Bros. Pictures Germany

Da bringt George Miller nach drei Jahrzehnten seinen ikonenhaften Straßenkrieger zurück und man kann nicht anders, als die Erfahrung mit Superlativen zu beschreiben. „Mad Max – Fury Road“ ist aber auch eine Ballade an Superlativen, wie sie höchstens alle paar Jahrzehnte in die Welt geboren werden darf. Ein Studioprojekt mit Megabudget, das scheinbar ohne Grenzen auskommt und als hundertprozentiger Autorenfilm alle Kompromisse wegsprengt? Könnte ruhig öfter so sein. Millers Inferno ist weder am Konsens noch an Konventionen des postapokalyptischen Genres gebunden. Quasi als Erfinder jenes grandiosen Endzeit-Actiongenres folgt er seinen eigenen Regeln und tüftelt mit ungebrochenem Elan daran, sich selbst zu überbieten: noch schroffer, noch bombastischer, noch wilder. Die „Fury Road“ ist in ihrer Form die Ekstase einer künstlerischen Karriere und eine Quelle des flammenden Wahnsinns.

5. The Lobster

Szene aus „The Lobster“ © Protagonist Pictures

Szene aus „The Lobster“ © Protagonist Pictures

Es ist eine skurrile Welt, die Yorgos Lanthimos kreiert. Ein düsteres Universum, das vor allem von seinen schrägen Details lebt und wie eine Art Wes Anderson für Erwachsene daherkommt, ohne kunterbunte Pappkulissen, aber dafür mit einer zynischen Dystopie: In ihr ist es ganz normal, dass ein Kamel, ein Schwein, ein Flamingo durch den Wald spazieren; dann hat sich eben ein Hotelgast für dieses Tier entschieden und dann passt es auch in die Gesellschaft von „The Lobster“. Und genau das ist das Großartige an diesem Film: eine Welt abzubilden, die unserer so ähnlich ist, aber sehr zugespitzt und verfremdet genau das entblößt, was wir in der Realität noch zu ignorieren versuchen. Ist das vielleicht gar ein Post-Tinder-Universum, wie man es bereits auf dem Weg aus dem Kinosaal nach dem Screening in Cannes so manchen Besucher munkeln hat hören?

4. The Look of Silence

Szene aus „The Look of Silence“ © Koch Media/Neue Visionen

Szene aus „The Look of Silence“ © Koch Media/Neue Visionen

Es stellt sich unausweichlich die Frage, warum Joshua Oppenheimer mit „The Look of Silence“ nochmals in jenes Sujet dringt, das er in „The Act of Killing“ behandelt hat – nun jedoch aus der Perspektive der Opfer jener Morde an Kommunisten zwischen 1965 und 1966, welche von der indonesischen Regierung und Armee angeordnet wurden. Welche neuen Erkenntnisse aber können gezogen, welche alten Wunden müssen aufgerissen werden? Schnell wird jedoch klar, dass jene Fragen in Indonesien von höchster Not sind. Im konzentrierten Rahmen eines Dorfes schildert Oppenheimer eine stille, doch brodelnde Gemeinschaft aus einstigen Tätern und Opfern, zwischen denen das Einverständnis herrscht, die Vergangenheit ruhenzulassen. So wie sich der Zuschauer in diesem Komplex der versagten Kommunikation fühlt, ist der Druck unausweichlich und nur mit tosenden Emotionen quittierbar.

3. The Embrace of the Serpent

Szene aus „The Embrace of the Serpent“ © Oscilloscope Pictures

Szene aus „The Embrace of the Serpent“ © Oscilloscope Pictures

Zwei Männer lernen, neu zu sehen. Es ist der Amazonas, der ihre Blicke öffnet – und es sind ihre Blicke, die uns öffnen. Ciro Guerra stößt uns auf diese Männer und ihre Blicke in „The Embrace of the Serpent“, mit einer imponierenden Archaik, die es heutzutage nicht mehr gibt, weil viele Regisseure nicht mehr glauben, dass es sie geben sollte. Sehen, das meint hier auch hören, und sehen, das meint hier auch träumen. Guerra zeigt in seinem Spielfilm, wie ein Mensch, der ideellen Werten folgt, seine Wurzeln überliefert und zugleich opfert, indem er vor eine Wahl gestellt wird, die in Südamerika keine Wahl mehr ist: Es geht um die Frage, warum ein Individuum seinen Stamm schützt, obwohl es ihn zerstört. Karamakate, jener letzte Schamane seines Stammes, verpflichtet sich daher einer Reise, die um ihre Endgültigkeit weiß – um ihre verlorene Freiheit, an die sich ein vielleicht verlorener Film schmiegt.

2. Whiplash

Szene aus „Whiplash“ © Sony Pictures Releasing GmbH

Szene aus „Whiplash“ © Sony Pictures Releasing GmbH

Manche Filme explodieren langsam, Damien Chazelles „Whiplash“ explodiert unentwegt. Es trommelt in ihm, es trommelt mit ihm, es pocht in einem Takt des unbedingten Willens, es birst bis zur Selbstaufgabe, die niemals folgt. Andrew (Miles Teller) ist dieser Trommler, der – aus welchen Gründen auch immer – der Beste aller Schlagzeuger werden will. Denn das Trommeln ist hier vielmehr Sport, wie ein Boxkampf, in dem Runde um Runde kein Sieger aus dem Ring steigt. Schlagzeuger gegen Schlagzeug. Mensch gegen Instrument. Mensch gegen Tempo. Mensch gegen Lehrer. Und so wie „Whiplash“ auch den Peitschenhieb bezeichnet, feuert er selbst diesen über die Laufzeit von 105 Minuten ab. Mehrmals. Bis das Fleisch aufreißt und die Trommel platzt. Damien Chazelle schafft noch Kino, bei welchem man sich vor der Leinwand duckt, bei dem es einen auffrisst und eine tobsüchtige Welle überkommt.

1. Carol

Szene aus „Carol“ © DCM Film Distribution GmbH

Szene aus „Carol“ © DCM Film Distribution GmbH

Überall Farbe, Nachwehen einer fernen Zeit, Kokons, die ihre Identität verschleiern. Todd Haynes’ „Carol“ säumt diese Farbe auf in einem hellkieseligen Nerzmantel, in Samt, in Leder, im Qualm etlicher, rußender Zigaretten. Es ist ein leiser, sonnenkitzelnder Film, der ruht und innerlich doch tobt, der leidet, klammheimlich, hinter wisperndem Dekor, das sich an uns presst wie Seidenpapier. Währenddessen streut Edward Lachman purpurrote Nuancen auf seine Bilder, und ein Kaminfeuer zürnt zwischen zwei Frauen, die ihre bisherigen Beziehungen zu Männern einstellen, damit sie fühlen, was die Gesellschaft der fünfziger Jahre ihnen zu fühlen verwehrt: Liebe. Carol, eine Upper-Class-Femme-fatale im suburbanen New Jersey, deren Leben als Hausfrau um ihre Tochter kreist; Therese, eine aspirierende Fotografin zwischen New Yorks Wolkenkratzern, die nicht einmal weiß, was sie zu Mittag essen soll.

Meinungen

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Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.