Zwischen Wissen und Wissenschaft porträtiert David Cronenberg den Albtraum aus Fleisch und Blut mit Gift und Galle. Zeit, ihm in einer Retrospektive zu huldigen! Des Parasiten zweiter Schlag mit „Dead Ringers – Die Unzertrennlichen“.

In „Scanners“ platzen Köpfe, „Die Brut“ besteht aus mörderischen Monstergnomen und in „Die Fliege“ wird aus einem Wissenschaftler ein mannsgroßer Menschen-Insekten-Hybride. Es sind zweifellos Momente wie diese, mit denen David Cronenberg zu einem großen Teil für immer in Verbindung gebracht werden wird. Einzigartige Schreckensbilder eines Visionärs des Body Horror, die uns Zuschauer stets aufs Neue überraschen, herausfordern und sogar schockieren. Kaum einer hat mit dem menschlichen Körper so verrückte Dinge angestellt. Ihn verdreht, umgewandelt und ins Abartige umgekehrt. Gerade als Knirps haben mich Dinge wie die Bauchöffnung in „Videodrome“ oder die Kreaturen von „Naked Lunch“ fasziniert, angeekelt und oft überfordert. Und dann gab es da noch „Dead Ringers“, der so anders war. Kein Blut, kein Gedärm und umherwandelnde Abscheulichkeiten. Zunächst wirkte es auf mich, als hätte sich der Urheber von zahlreichen meiner Albträume zwischendurch an leicht verdaulicher Dramakost versucht. Welch trügerischer Schein. Denn dies ist einer jener Filme, die sich mir nach und nach erschlossen und dadurch mein Verständnis von Genrebegriffen nachhaltig erweitert haben.

Es ist abermals der Körper, der in „Die Unzertrennlichen“, so der deutsche Titel, im Fokus steht. Und die Hauptfiguren, die eineiigen Zwillinge Elliot und Beverly Mantle (jeweils Jeremy Irons) sind Männer der Wissenschaft. Als Koryphäen der Gynäkologie und Fertilität machen sie sich die Damen der Schöpfungen in ihrer Welt aus Geburtskanälen, Eierstöcken und Genitalien in gleich mehrfacher Hinsicht zu eigen. Der mit weltmännischem Selbstbewusstsein gesegnete Elliot erobert sich gerne die ein oder andere hübsche Patientin. Ist er mit einer durch, überlässt er sie seinem introvertierten Bruder. Äußerlich nicht voneinander zu unterscheiden, verstehen sich die beiden darauf, spontan die Rollen zu switchen. Womit Elliot gerade dem Grübler Beverly zur vielleicht einzigen Gelegenheit verhelfen will, in den Genuss der sinnlichen Freuden des Lebens kommen zu können. Bis zum Auftauchen der Schauspielerin Claire (Geneviève Bujold), die alles ins Wanken bringt. Für Elliot ist es eine glamourträchtige Kerbe im Bettpfosten. Für Beverly wird es etwas Ernsteres, noch nie Dagewesenes. Er beginnt seine erste wahrhaftige Beziehung zu einem anderen Menschen. Wodurch sich auch die ersten Risse im Gefüge der Zwillinge offenbaren. Elliots Streben nach dem akademischen Aufstieg und das aufkeimende Zerbröseln von Beverlys mentaler Stabilität. Als Claire dahinter kommt, welchem der Brüder sie sich ursprünglich hingegeben hat, verschlimmert sich die Situation. Beverly ist da schon längst auf den Geschmack von Medikamenten gekommen und benötigt immer größere Mengen, um den Alltag zu bewältigen. Eine Entwicklung, der auch der kontrollliebende Elliot nicht mehr entgegensteuern kann. Die brüderliche Einheit löst sich nach und nach auf. Selbst als sich Claire des gebeutelten Beverly doch noch erbarmt, vermag dieser nicht mehr lange, seine Angstzustände und Wahnvorstellungen unter Verschluss zu halten.

Womit „Die Unzertrennlichen“ uns schließlich mit der beunruhigenden Vorstellung eines Halbgott in Weiß konfrontiert, der ins permanente Delirium abdriftet. Ein Arzt, der sich von Frauen mit mutierten Geschlechtsteilen umzingelt sieht und im Operationssaal schließlich monströs anmutende Werkzeuge an einer Patientin anwenden will. Obwohl David Cronenberg seine Figuren im medizinischen Metier ansiedelt, werden die anatomischen Details nur beschrieben. Was die ungemein tief zielende Wirkung des Films noch steigert. „Die Unzertrennlichen“ tauscht die visualisierten Schrecken aus Cronenbergs Vorgängern gegen das Gefühl eines sich ständig steigernden Unwohlseins. Ziel schien hier nicht die absolute Abschreckung vor dem nächsten Arztbesuch gewesen zu sein oder vor der eigenen Anatomie. Das wäre dann doch etwas zu platt. Im Gegenteil, Elliot und Beverly Mantle verkörpern einen ähnlichen Forschertypus wie Jeff Goldblum in „Die Fliege“. Sie sind grundsätzlich keine Charakterschweine, greifen nicht im frankensteinschen Sinne ein in die Schöpfung. Was Beverly und Elliot zu Fall bringt ist die Liebe. Sie wirkt tödlicher als jedes Gift. „Die Unzertrennlichen“ kann dabei als Amour fou im reinsten Sinne verstanden werden. Als Geschichte eines Brüdergespanns, in das sich eine Frau drängt. Aber auch die Beziehung zwischen Claire und Beverly trägt die Saat der Selbstzerstörung bereits in sich. So bringt die Aktrice Beverly nicht nur eine neue, ungeahnte Art der Intimität näher, sie zeigt ihm auch, wie sie mit Pillen den Alltag bewältigt.

Für mich liegt der eigentliche Kern nicht nur im romantischen. „Dead Ringers – Die Unzertrennlichen“ ist ein Film über die Liebe und ihren Entzug. Eine Liebe, wie sie nur zwischen Zwillingen bestehen kann. Obwohl sie körperlich nicht verwachsen sind, scheinen Beverly und Elliot durch eine Nabelschnur verbunden. Sie teilen ihre Empfindungen und Erfahrungen. Worunter eben auch ihr Abwechseln bei Bettgefährtinnen zählt. Ein Akt brüderlicher Innigkeit. Eine Verbindung, die schließlich beide in den Abgrund driften lässt. Für den zielstrebigen Elliot gibt es am Ende nur noch ein Ziel: Mit seinem Bruder auf ein Level zu gelangen. Und bekommst du deinen Liebsten nicht vom Schlund weg, musst du eben selbst zum Schlund vordringen. Die Nabelschnur, die beide verbindet, legt sich letztlich um die Hälse und zieht immer fester zu.

Es braucht also keine abnormalen Körperteile und Öffnungen, um den Zuschauer zu verängstigen. Mit „Die Unzertrennlichen“ deutete David Cronenberg zum Abschluss der achtziger Jahre schon an, was in seinem Spätwerk hervortrat: Seine Mutationen und Veränderungen behandelte er immer von innen wie außen. Hier nun spielt sich das gesamte Grauen gänzlich im Kopf ab. Bis auf diesen einen Moment, in dem Cronenberg doch kurz dem Ekel die Tür öffnet. Aber das ist nicht mal einer der stärksten des Films. Was überwältigender wirkt, ist das hervorragende Spiel von Jeremy Irons, der es schafft, jeden Zwilling zu einem eigenständigen Charakter zu machen. Zwischen Egomanie und ärztlicher Überheblichkeit vermittelt Irons doch stets eine grundlegende Sympathie. Weil Elliot und Beverly das erleben, was wir alle befürchten. Den Verlust zu unserer heilen Seite. Was geschieht, wenn wir uns nicht mehr kontrollieren können. Sowohl Claire als auch der jeweilige Bruder verkörpern so gesehen den Teil von uns, den wir nie verlieren dürfen. Demnach ist „Die Unzertrennlichen“ auch mehr als eine Lovestory mit Horrorelementen. Cronenberg behandelt die Elemente, Liebe und psychisches Grauen, gleichberechtigt. Das eine erwächst aus dem anderen. Wunderbar unterstrichen auch von all den Details, die zum Beispiel in der Gestaltung stecken. Beverly und Elliot bewegen sich anfangs in einer aseptischen, cleanen Umgebung. Räumen, die zwar nach Wohlstand aussehen, aber auch sehr klinisch anmuten. Ihre Praxis, die Preisverleihungen oder die heiligen Hallen der Fakultäten muten perfektionistisch an, wirken aber auch bereinigt von jeglicher Emotion. Claires Welt dagegen versprüht einen ganz anderen Charme. Ihr Heim besitzt beinahe die Züge eines Antiquariats. Ein merklicher Kontrast, dem wohl jeder erliegen würde.

Es hat auch bei mir einige Zeit gebraucht, bis ich „Die Unzertrennlichen“ richtig wertschätzen konnte. Zu festgefahren waren wohl meine Eindrücke von Cronenbergs Werken, die ich bis dahin durchlebt hatte. Zu eisern verband ich den Begriff Horror mit unnatürlichen oder übernatürlichen Ursachen. Mit Untoten, von Menschenhand geschaffenen oder gerufenen Monstern. Bei jedem neuen Ansehen stieg mein Interesse an diesem speziellen Titel dann aber umso mehr. Weil „Die Unzertrennlichen“ nichts Effekthascherisches benötigt, um uns an die Abgründe der menschlichen Seele heranzuführen. Weil es schmerzvoller ist, die Trennung zweier eng verbundener Seelen zu beobachten. Der Tod mag die größte aller Urängste verkörpern, aber manchmal birgt etwas so banal Klingendes wie Einsamkeit die weitaus verstörenderen Schrecken in sich. Für diese Erweiterung meiner eigenen Sichtweise auf das Genre Horror bin ich David Cronenberg äußerst dankbar und lege „Die Unzertrennlichen“ allen ans Herz, die diesen außergewöhnlichen Film bisher noch nicht gesehen haben.

Meinungen

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