„Weil er da ist“, fasziniert er – und weil er fasziniert, kraxelt der Mensch auf ihn. Vielleicht auch aus Trotz? Der Mount Everest jedenfalls ist immer da: für den Menschen, für seinen Wahnsinn, für seine Geschichten. So erzählt nun auch der isländische Regisseur Baltasar Kormákur über die Manie einiger williger Kletterenthusiasten, die sich den Gipfel auf 8.848 Metern Höhe mit 65.000 Dollar aus der Urlaubskasse erkauften. Damals, im Jahr 1996, es ist nicht einmal lange her, sprudelte der Kommerz am Himalaya über vor Postangestellten, Personalleitern, Verlegern, Pathologen, Kardiologen, Anästhesisten. Alle einte ein Ziel: die „Göttinmutter“ zu entdecken, zu besteigen, mit ihr zu prahlen und als Held heimzukehren. Wenn allerdings ein Spielfilm den höchsten Berg der Erde fokussiert, dann muss diesem zugleich ein mächtiger, gutturaler Schrecken innewohnen, der im dramaturgisch besten Sinne seine Lämmchen frisst. Hier heißen sie Doug, Beck, Yasuko, Lou, Frank, Sandy. Und im Eröffnungsfilm der diesjährigen Filmfestspiele von Venedig lernen sie, dass der Begriff „Todeszone“ nicht weniger als wörtlich zu verstehen ist. Daher lautet der Titel des Films, welcher in einer Vorblende über das stählerne Massiv schwebt: „Everest“.
Es ist eine zwiespältige Reise, die Kormákur im Stile eines Zitats aus Bruce Nyzniks und Lawrence Schillers Dokumentarfilm „Schussfahrt vom Mount Everest“ kreiert. „Die Talfahrt des Geistes ist schmerzvoller als die Bergfahrt des Körpers“, sagt Yūichirō Miura dort, bevor er mithilfe eines Fallschirms auf Skiern den Südsattel des Berges hinunterrast. Entsprechend achtlos taumeln auch die abenteuerwütigen Extremtouristen über das Tal des Schweigens bis zum Gipfel, schleifen ihre Arme vorweg und ihre Beine knapp dahinter, röcheln Sauerstoff aus Flaschen; bibbern, stöhnen, halluzinieren. Bis dahin entwickelt „Everest“ ein warmes, flüchtiges, ruhiges Drama, das zwar konventionell, aber per se strikt nüchtern die Groteske des Himmelfahrtskommandos zeichnet. Der Tod ist hier im Akkord zu haben – über Firmen, die wie martialische Maschinen klingen („Adventure Consultants“, „Mountain Madness“). Da die Verrückten dieser Welt jedoch nach einer teuren Sause lechzen, herrscht reges Treiben im Basislager zwischen asiatischen Couch-Potatos und amerikanischen Gockeln, die saufend und mit Brustpelz in der Sonne laben. Bergführer Scott Fischer (Jake Gyllenhaal) ist einer, Kontrahent Rob Hall (Jason Clarke) keiner von ihnen. Sympathisch aber sind sie beide; wie erstaunlicherweise alle Figuren, denen Kormákur wenige hitzige Szenen widmet.
Dann kommt Eis, dann kommt Schnee; ein Plateau hier, ein Grat da. Und „Everest“ blockiert, wo es um das Theater Natur ginge: beim Abstieg. Als er nicht mehr nur erzählen, sondern zeigen sollte. Dort allerdings zerreißen Salvatore Totinos Bilder im Sturm, während sie zuvor immerhin mühselige Panoramen aus dem Reisekatalog lieferten (und einige Einstellungen aus dem gleichnamigen Imax-Streifen von 1998 recycelten oder via CGI und Greenscreen imitierten). Und dort sträubt sich auch Mick Audsleys Schnitt der Kohärenz, komprimiert weniger, als er in dünnen, bunten Daunenanzügen zerfasert. Doug, Beck und Yasuko trennen Höhenmeter und Schicksale – aber die Kamera wagt nicht, sie zu trennen, malt aus ihnen diffuse Chiffren. Der Kollaps, den William Nicholson und Simon Beaufoy hauptsächlich (und relativ ausschmückungsfrei) Jon Krakauers Reportage „In eisige Höhen“ entleihen, ängstigt nicht, lehrt keine Beklemmung oder Ehrfurcht. Er fasst sogar seine Theatralik derart kurz, dass zuvor effektiv eingeführte Alpinisten flugs das Zeitliche segnen, indem sie sich die Kleider vom Leib reißen oder einen falschen Schritt zum Abgrund tun. Obgleich Robert Markowitz’ Fernsehbrimborium anno 1997 dieselbe Geschichte bereits am Rande eines B-Movies darstellte und keinen rechten Tritt fand: Es war ein Film, der sich der Emotion eines Todes auf dem „Dach der Welt“ erfolgreich annahm.
Baltasar Kormákur hingegen hadert mit der psychologischen Action des Unglücks, sodass die Wahrheit des 10. und 11. Mai 1996 merkwürdig blockbusteresk und surreal scheint, obwohl sie – es muss betont werden – der Realität entspricht. „Everest“ tangieren letztlich billige Posen ohne Intimität, ohne Gefühl, ohne Substanz. Und lässt noch immer auf diesen einen, sensationellen, nervösen, kollabierenden Spielfilm warten, der die Höllentouren auf einen der Seven Summits akkurat abbildet. Mit Größenwahn – doch mit Größe.
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