Mark Twain ringt um die umgangssprachliche Schlichte seiner Prosa, seine sanfte Untersuchung von Heranwachsenden, dem Suchen und Finden einer Identität und der gesellschaftlichen Werte. Doch nicht nur. Denn erst durch seinen oft unterschätzten magischen Realismus blühen seine Werke: die außerordentlichen Springfrösche, die flüchtenden Häftlinge, vergrabenen Schätze und mittelalterlichen Königreiche, die erst jenes Gefühl der Lügengeschichten auszustrahlen bereit waren. Jeff Nichols’ „Mud“ taucht ein in eine ebensolche Vene Amerikas und strickt einen leisen Umbruch aus dem wuchernden Geröll, welches den Mississippi entlang fließt. Boote hängen schwindelfrei in Bäumen; rätselhafte Fremde tauchen hinab in die Schatten von Kindern; und Frauen suchen Halt, eine Nachtigal auf den Handrücken tätowiert. Den Einfluss Twains würfelt Nichols in ein drängendes Territorium um Kindheit, Freundschaft, die erste Liebe und Verantwortung, welches uns mit jedem Wimpernschlag näher in die Welt der Erwachsenen und hinfort der Abenteuer und flüchtigen Gefahr stößt.

Statt Huckleberry Finn stolpert der junge Ellis (Tye Sheridan) in den Untiefen Arkansas’ mit seinem besten Freund Neckbone (Jacob Lofland) über ein wundersam gestrandetes Boot nahe des Mississippis. In einem Baum hängt es, scheinbar herrenlos, abgeschnitten von der Zivilisation und dem hungrigen Ungetüm der Gezeiten. Sie finden Dosen, sie finden Toastbrot, ihr Schatz schwindet. Denn ein Mann residiert dort; gleichsam Bedrohung und Versuchung, mit seinen flackernden Augen und dem Kreuz im Stiefelabsatz. Der Unbekannte gleicht den Namen seiner Erscheinung an: Mud (Matthew McConaughey) sollen sie ihn nennen, die Jungen, welche in den unklaren Intentionen des Fremden ihre eigene Unsicherheit, ihre eigene wenig bedeutende Stellung in der Gesellschaft vermuten. Dieser Mud tötete einen ehemaligen Liebhaber seiner scheinbar endlosen Jugendliebe Juniper (Reese Witherspoon) und flieht vor den Verwandten des Mannes. Nun wandert er durch die Lande in der Hoffnung auf eine haftende Innigkeit, exemplarisch kristallisiert in dem Plan eines gemeinsamen Forttreibens mit Juniper bis zum Golf von Mexiko.

Obgleich Nichols sein Werk mit dem Charakter McConaugheys markiert, jenem märchenhaften Bummler der speienden Binsenweisheiten, so zentriert er sich dennoch um Ellis und den allmählichen Zerfall seiner infantilen Konzepte der Liebe. Dafür schlägt Nichols ein unlängst vergessenes Kapitel britischer Filmgeschichte in einer Annäherung an Bryan Forbes Adaption des Romans von Mary Hayley Bell auf. Aus den Augen des zehnjährigen Brat führte „… woher der Wind weht“ drei Kinder auf die falsche Fährte eines versteckten Flüchtlings, welcher auf die Frage nach seinem Namen aus Schreck und Wahn schlicht Jesus antwortet. Sie folgen ihm, bergen ihn, bringen ihm Güte entgegen, Unschuld, Akzeptanz, die ihm die Welt der Erwachsenen in ihrem Zorn seinen Taten gegenüber verwehrt. Ellis mag in Mud nicht buchstäblich den Messias sehen, doch er schätzt ihn dennoch als mythische Figur, als fliehende und geächtete Gestalt, die Heimat in einem Boot finden muss. Mud ist ein verführerisches Geheimnis für den beeinflussbaren Ellis und in geringerem Maße für den weitaus zynischeren Neckbone. Sogar mit befremdlicher Gewandtheit spricht er, als ob das ungezähmte Äußere, der Schmutz und die mangelnde Hygiene diesen Überlebenskünstler erst formen und durch Objekte und Symbole kennzeichnen.

Ein wesentlicher Aspekt hinter Muds Mythologie und diesem scheinbar geheimnisvollen Organismus produziert sich aus Selbsttäuschung als auch den Methodiken des Draufgängertums. Jene mysteriös erzeugte Energie zeichnet die überlebensgroße Figur namens Mud ebenso übernatürlich in Ellis’ Lebensirrglauben ab. Als Ellis sich in ein einheimisches Mädchen verliebt – eine unerfüllte Sehnsucht auf den ersten Blick –, da kennt er nur die eine Seite, eine frauenfeindliche Offensichtlichkeit, eine Abweisung und eher eine Scham von all den Männern in der Stadt, selbst seines Vaters. Doch Mud beteuert fortwährend seine Liebe zu Juniper. Für Ellis liegt darin gar eine Offenbarung. Er wird zu Muds Protegé, ahmt sein Verhalten, seine Ausbrüche und seine Gewalt nach und unterstützt die geplante Flucht. Die Gewalt gegen Männer lernt er erst durch ihn und rebelliert schließlich gegen jene Männer, die eine potenzielle Gefahr für das Mädchen darstellen, in welches er sich verliebte. Weltfremder Idealismus paart sich mit Zerstörung.

Da sitzt eine Glut tief in Tye Sheridans Schauspiel seines Ellis’, ein kerniges Temperament eines wesentlich Älteren, einer vielleicht sogar reifen Seele, die inmitten der zweifelhaften Freiheit auf dem Mississippi zu Furchtlosigkeit wächst. Nicht nur drängt er gegen die schauspielerischen Talente der Veteranen Matthew McConaughey und Sam Shepard (als militanter Aussätziger), sondern vollführt eine mühelose Konfrontation der Generationen, doch weniger rabiat als gleichaltrige Kollegen; beinahe sanft und unbestimmt, selbst in seinem Jähzorn. Seine Geschichte, die aus den Spannungsverhältnissen Muds ersteht, gedeiht langsam aus den Kinderschuhen in einen feindlichen Lebensraum, in dem wenig Platz für Gefühle, Verständnis und Kommunikation bleibt. Während sich Mud zu einem falschen, aber immerhin harmlosen Propheten entwickelt, stürzt Ellis in eine Glaubenskrise. Die Schablonen aus dysfunktionaler Elternpolitik und idealisierter Weltanschauung wachsen ineinander, bis Ellis sie schwerlich als Karikatur der für ihn sagenumwobenen Ödnis abseits des Flusses wahrzunehmen vermag. Erst die Frauen lösen den Konflikt von ihm ab, die weder als Glorifikation existieren, noch als Rivalinnen eines männlich dominierten Lebensstils.

Es ist eine unschätzbare Lektion, die „Mud“ zu einer überaus raffinierten und fortschrittlichen Untersuchung darüber gedeihen lässt, wie sich die Männlichkeit Heranwachsender von häufig widersprüchlichen kulturellen Haltungen gegenüber der Weiblichkeit definiert. Dabei romantisiert Nichols die schlichte Kultur um Ellis, drängt sie immer mehr den Tritt zu verlieren und abzurutschen – der Selbstverlust frisst sich durch zum Selbstgewinn. Doch er erzählt ebenso eine Geschichte, die dem Pathos hörig ist, ein bisschen zu gewöhnlich dahin treibt und in seiner Reduktion aller narrativen Originalität zwar die Südstaatenschwüle in weicher Elegie zeichnet, den Lebemann namens Mud jedoch kein ambivalentes Ende schenken möchte, dem die Mythologie stetig um den Kopf kreist, doch der die Stechmücke schließlich einfängt. Immerhin kann in der wundersamen Einöde Arkansas’ alles entstehen – alles, doch keine Fragen.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Mud“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.