Mulholland Drive: eine Traumstraße, eine ungemein düstere Straße in der Nacht, eine dem Schicksal gleichende Strecke, die zur Stadt der Engel führt. Fragt man David Lynch, was er an Los Angeles schätzt, wird er auf die verschiedenen Stimmungen und Lichter verweisen, die so gut wie jede Stadt ausmachen, aber gerade dort für den Kultregisseur so faszinierend sind, dass er sie metaphorisch in seinem Werk „Mulholland Drive“ verbildlicht. Beschäftigt man sich ein wenig mit Lynchs Œuvre, wird man wiederkehrende Motive, Mittel und Emotionen entdecken, auf einer surrealistischen Reise, die nicht nur Himmel und Hölle fusioniert, sondern eine einzigartige Stimmung schafft, der man entweder vollkommen ergeben ist oder wenig abgewinnen kann. Betritt man jedoch die Welt David Lynchs, erwarten einen nicht nur herausragende Filme – es erwarten einen Werke, die auf einer Wellenlänge sind mit Bergman, Tarkovsky, Buñuel oder Kubrick.

Zu einem Walking Bass tanzende Paare, x-fach dupliziert ineinander geschnitten, dass man ihnen kaum folgen kann. Bereits die erste Szene, vermeintlich unwichtig, verrät schon viel über das Folgende und mündet in einer glasklaren, roten, erklärenden Einstellung. Nur dass Lynchs Erklärungen beileibe keine konventionellen Muster aufweisen. Sein chaotisches System erfreut sich an seinem assoziativen, impulsiven, ästhetischen, bedrohlichen und vor allem verwirrenden Eigenleben. Ein Film, der zunächst als Serie geplant war und dem es deswegen nicht an Charakteren mangelt; ein Film, der beinahe nicht zustande gekommen wäre, dessen Existenz jedoch Herzen höher schlagen lässt. „Mulholland Drive“ ist in zwei Teile gegliedert. Und wenn man dies begriffen hat, fällt der Rest nicht wirklich schwer. Das Verstehen ist jedoch wiederum abhängig vom Chaos, dessen Kernsubstanz aus Eifersucht, Verzweiflung, Träumen und Bösartigkeit besteht. Es ist purer Wahnsinn, wie Lynch ein solches Geflecht präsentieren kann und in seiner Kompliziertheit herausragend, wie er solche Emotionen unnachahmlich bedrohlich zeigt und evoziert. „Mulholland Drive“ gehört gleichzeitig zu den besten Horrorfilmen als auch zu den besten Dramen und Psychothrillern. Es ist ein Werk von unbezwingbarer Stärke, das vollkommen zu Recht in so gut wie jeder seriösen Bestenliste zu finden ist.

Immer wieder muss man betonen, dass bei Lynch nicht nur das Verstehen eines Inhalts im Vordergrund steht – es sind die synästhetischen Erlebnisse, die beim Ansehen seiner Filme so einzigartig sind, dass es niemanden jemals gelingen wird, nur einen Hauch ihrer Seele zu kopieren. Natürlich ist der Regisseur nicht allein verantwortlich. Hier sind es besonders zwei andere Departments, die den Film unvergesslich machen: die Bildgestaltung von Peter Deming und die Musik von Angelo Badalamenti, der in einer der besten Szenen als Espresso-Tester auch sein schauspielerisches Talent unter Beweis stellen darf. Deming, der Lynch schon für „Lost Highway“ mit sensationeller Kameraarbeit diente, gelingen perfekte Fahrten, darunter viele mithilfe einer Steady Cam, die nicht nur Schrecken auslösen, sondern ein Unbehagen entstehen lassen, das seinesgleichen in sämtlichen Horrorfilmen nicht finden wird.

Die Lichter und Farben komplettieren eine surreale Welt, in der Lynch insbesondere die Verbindung des Rötlichen mit dem Dunkelblauen gefällt. Badalamenti, der in allen Filmen Lynchs sowie der Serie „Twin Peaks“ für die musikalische Untermalung verantwortlich ist, beweist mit Stücken wie „Mr. Roque / Betty’s Theme“ oder „Mulholland Drive / Love Theme“ sein uneingeschränktes, geniales Talent, mit Musik etwas auszudrücken, dass nicht nur als Klang existiert, sondern die Bilder in sich aufsaugt, sodass sich Musik und Bild symbiotisch bereichern. Diese kongeniale Zusammenarbeit ist vollkommen einzigartig, da sie auf Gleichberechtigung basiert und für den erzielten Effekt aller Lynch Filme unabdingbar ist. Es reicht, separat Stücke und Lieder anzuhören, die unter anderem auch von Lynch selbst stammen, um den Film zu verstehen.

Jede Szene, jedes Bild, jeder Ton, jedes mimische Zucken, jede Regung, die alles oder nichts bedeuten kann, ist genauso gewollt. Denn Lynchs Chaos ist keines, sobald man sein Muster versteht. Träume entspringen einer anderen Logik, man tauscht dort Menschen und Beziehungen, verändert im Wunschdenken oder aus Angst die Verhältnisse, das Unterbewusste gewinnt Oberhand, die wartenden Katastrophen sind schon längst passiert. „Mulholland Drive“ spielt mit dieser emotionalen Ambivalenz und verweigert eine rationale Erklärungsnot, die umso mehr den Surrealismus betont und Traum und Realität vermischt, um das Unterbewusste zu erzählen. Daher ist es nur konsequent, Verwirrung zu stiften, den Zuschauer in Fallen zu locken und mit ihm zu spielen. Denn dem Menschen passiert nichts anderes, wenn er versucht, sein eigenes Unterbewusstsein zu erkunden oder gar zu verstehen. Träume ermöglichen alles, was vorstellbar ist. Und man hat bei Lynch das Gefühl, dass es ihm leicht fällt, Träume zu realisieren.

Dies kann eine immense Faszination auslösen, gerade weil er so ehrlich ist und seinem Stil treu bleibt: eine albtraumhafte Atmosphäre durch Fahrten und Farben, emotionalisierende Streicher, bassbetonten Jazz, Schönheit im Angesicht der Hässlichkeit, Erotik, unmenschliche Menschen, Figuren von höchster Absurdität mit distinktiven Merkmalen, die wiederum von Träumen oder Süchten besessen sind. Ein Meisterwerk ohne jegliche Vergleichsbasis.

Meinungen

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