Dies ist ein Porträt einer destruktiven Menschheit, gefasst in abstrusen Szenarien, leeren Handlungssträngen, Hauptdarstellern in schwerelosen Drehbuchgefügen und zersetzten Gedanken. Denn dies ist schlicht ein Film von David Lynch. Jener, der den Sinn der Existenz in Mechanismen auftrennt, die dem Leben einen Raum der freien Entfaltung nehmen, der eigenen Kontrolle und der Entgleisungen. Doch mit „Inland Empire“ wirbelt Lynch nachträglich seine filmischen Denkmähler auf, überfrachtet den klaren Verstand und vernebelt alle Sinneseindrücke. „Inland Empire“ verunstaltet jeden klaren Gedankengang und lässt Lynchs Strukturen in Perfektion ein ergötzendes Spiel mit der eigenen, verirrten Wahrnehmung treiben.

Es ist ein Film, in dem ein Film, in dem ein Film gedreht wird. Irgendwo in der Welt Hollywoods erzählt „Inland Empire“ von Habgier, Rachsucht und der hitzigen Schwerelosigkeit eines Projekts: Die reale Schauspielerin Nikki Grace (Laura Dern) verfängt sich in der Rolle der fiktiven Susan Blue, deren Leinwandinterpretation bald mit dem Fluch der damaligen Filmproduktion konfrontiert wird. Denn „On High in Blue Tomorrows“ trieb als polnische Adaption mit dem Titel „47“ ohne Premiere bei Konkurrenten umher, bis der renommierte Regisseur Kingsley Stewart (Jeremy Irons) zu einem Remake angewiesen wurde. Neben Grace verpflichtet Stewart den eigensinnigen Devon Berk (Justin Theroux), der mit Nikki einen Pakt unter Darstellerkollegen spinnt – im Sinne einer Intrige voller Liebesschwüre. Bald weichen Regieanweisungen allerdings den unwirklichen Zusammenhängen zwischen dem bewussten Filmdreh und der improvisierten Handlung.

Beinahe drei Stunden schaffen nun verwirrende Einzelheiten in purer Lynch-Reinkultur, die aus dem Martyrium Digitalfilm in knacksigen Einstellungen erstehen. „Inland Empire“ präsentiert sich als: unscharf, verwackelt, überbelichtet, unterbelichtet, verzogen – unausweichlich. Als ob er um Stierköpfige tanzt, saugt Lynch diese unbedeutenden Charaktere außerhalb von Laura Derns Sichtfeld mit der Handkamera so schonungslos ein, wie ihre Bedeutung in Nikkis Universum ist. Schemenhafte Ausschnitte treffen auf porentiefe Gesichter, während Blicke einer dritten Perspektive aus Nikkis Unterbewusstsein fahren und die meist in der Detailaufnahme agierenden Laura Dern ängstigen. Welch ein Wagnis für eine Schauspielerin, eine Nähe dieses Grades freiwillig zuzulassen! Sie entblößt sich ohne Zögern dem lynchesken Kammerspiel, und versucht dennoch sich dem vorbestimmten Sog der Geschichte zu entfernen.

Eine Geschichte, die gestern passiert ist, aber ich weiß, dass es morgen ist.

Das Spiel im Spiel, Film im Film, Darsteller im Darsteller, Rolle in der Rolle verstaucht sich zunehmend und bildet eine immer umfassendere Studie einer verwahrlosten Frau, deren Bild gestört ist, einem Bild von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – einem Produkt von Heute und Morgen. Manches Mal verschwindet sie einfach wieder, entgleitet wie eine Fata Morgana abrupt dem Blickfeld. In dunklen Gassen, umringt von endlosen Fluren und Türen, kommt Nikki ihrer Angst näher und ficht Kämpfe mit Huren aus, die improvisiert „The Loco-Motion“ schwingen. Gleißendes Licht erhellt ihren Weg; doch es ist nur ein Lämpchen, das zwar Helligkeit spendet, so begrenzt allerdings, dass es das Schwarze in ihrer Seele nicht vollständig zu verdecken vermag. Kurz danach fliegt die Filmkamera nach hinten, taucht erneut auf, obwohl die Antworten schon gefunden sind.

Fortwährend schleichen zudem merkwürdige Gestalten in Hasenkostümen durch eine imaginäre Theaterkulisse; dazu krächzendes Gelächter, als wähnten wir uns in einer dieser amerikanischen Sitcoms, in der badender Applaus zum Konsens gehört. Nur verführen die schon in dem eigenwilligen Kurzfilmkuriosum „Rabbits“ aus dem Jahr 2002 von Lynch gestellten Hasenmenschen weder zu fanatischen Lachanfällen, noch geben sie eine Bedeutung wieder in jenen planlosen Einzeilern, die die Mitglieder der Hasenfamilie sich gegenseitig prophezeien. Ihre Gespräche rangieren ohne Zusammenhang, ohne eine Linie, die aufgenommen werden könnte. Denn deren Dialogzeilen verstecken ihre potentielle Bedeutung – bis all die kleinen Anleihen nur schüttere Splitter auf die komplette Laufzeit bleiben. Selbst bisherige Elemente verhindern eine klare Sicht auf die Verhältnisse: Erzeugen die drei Ebenen von „Inland Empire“ nebeneinander eine Interpretation, verhindern sie den Sprung auf eine totalitäre Ansicht gegenseitig.

Während Halluzinationen und Realität verschwimmen, trägt Lynch all die Sinnestäuschungen ohnehin zu einer unfassbaren visuellen Stimulation voran. Fanden die Vorgänger „Mulholland Drive“ und „Lost Highway“ noch einen Raum, in dem sie sich als Mittel zum Zweck ausbildeten, steht „Inland Empire“ neben sich; reiht scheinbar nutzlose Sequenzen aneinander, die aus den Albträumen des Regisseurs ebenso geboren sind, wie aus den verschlungenen Idealen der bisherigen Filmographie. Wenn es ein Leinwandexzess ist, dann ein gründlich schmutziger, eine verstörende Parade über eine Frau, die dem Mär namens Hollywood verfallen ist. Da sitzt sie dann in einem leeren Kinosaal, starrt die eigene Geschichte des ungelebten Erfolgs an und erkennt in der vagen Realität hinter der Produktion „47“, wie unlösbar sie mit dem Schicksal der gezeigten Person verbunden ist.

Hier erwecken Stars Träume zum Leben und aus Träumen werden Stars.

Lynchs Realität arbeitet in „Inland Empire“ schließlich gegen ein Verständnis und die natürliche Wahrnehmungsfähigkeit, aber für ein unstrukturiertes Gefühlsleben – ein wildes Bildnis von der inneren Erscheinung des Menschen. In Albträumen zitiert er ohne jegliche Trugbilder die desaströse Verwüstung des Verstandes, die dem Menschen jede Entscheidungsfreiheit nimmt. Auch verriegelt Lynch neben den gewohnten Hollywood-Weisheiten die Möglichkeit einer unleugbar klaren Definition von Film und Film im Film, klammert grundlegende Aufbauten aus und schneidet doch ein eigenes Stück psychedelische Geschichte in die Welt hinein.

Meinungen

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