Ein tristes Hotelzimmer. Ein nervöser Mann wartet auf das erste Treffen mit seinem vermeintlichen Doppelgänger. Er geht auf und ab, immer wieder ein erwartungsvoller Blick auf die Tür. Wird er kommen? War alles nur ein Traum und er wird gleich aus diesem aufwachen? Doch dann öffnet sich endlich diese Tür und er, auf den er so sehnsüchtig gewartet hat, steht vor ihm. Sein Zwilling, sein Ebenbild, er selbst? Das Kreuzverhör zwischen den beiden beginnt. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Das Aussehen, die Stimme. Aber das ist noch nicht alles: Sie stellen fest, dass sie sogar die gleiche Narbe auf ihrer Brust haben. Wie kann das sein? Jetzt hilft eindeutig keine Logik mehr, keine möglichen Erklärungen. Die beiden müssen ein und diesselbe Person sein. Alles andere macht keinen Sinn. Oder vielleicht doch?

Der Kanadier Denis Villeneuve spinnt mit seinem neuen Film „Enemy“ ein faszinierendes Netz aus möglichen Un-Möglichkeiten. Die Grundlage für diesen Psycho-Thriller bildet dabei der Roman „Der Doppelgänger“ des portugiesischen Schriftstellers José Saramago. Villeneuve erhält Struktur und Personenkonstellation der Romanvorlage und fügt dem Ganzen eine eigene Note bei. Das realistische Großstadt-Setting wird zum surrealen Alptraum. In ganz sanften Tönen, mit einem gelb-braunen Filter überzogen, skizziert die Kamera das Bild einer modernen Metropole, den kollektiven Wahnsinn. Wie der einzelne in den Tiefen der Hochhäuser verschwindet und unwichtig wird. Vielleicht handelt es sich bei dieser Stadt um Toronto, oder auch nicht. Das ist völlig egal, denn letztlich könnte dieser Ort ein jeder Ort sein – oder vielleicht auch nur bloße Fantasie. Ebenso wie die Menschen, die dort leben. Allen voran die beiden Doppelgänger Adam und Anthony. Gleich zweimal Jake Gyllenhaal! Der eine ist ein etwas introvertierter Geschichtsdozent. Tag ein Tag aus die gleiche Routine. Unterrichten an der Uni, am Abend nach Hause zur Freundin (Mélanie Laurent), routinierter Sex, ein wenig Schlaf und am nächsten Tag wieder das gleiche Prozedere. Bis er plötzlich in einem Film seinen potentiellen Doppelgänger sieht: Anthony. Er ist Schauspieler und mit der schwangeren Helen verheiratet. Adam begibt sich auf die Suche nach diesem Anthony, bis es schließlich zu diesem ersten Aufeinandertreffen kommt, in jenem Hotelzimmer. Eine Schlüsselpassage, die die Handlung kippen lässt. Fortan wird Anthony zum Jäger und Adam zum Gejagten. Sie beschließen die Rollen zu tauschen. Und warum? Natürlich der Frauen wegen.

Obwohl im Zentrum von „Enemy“ zwei männliche Doppelgänger stehen, geht es doch immer wieder um die Frauen, ihre Sinnlichkeit und ihren Körper. Bereits in der ersten Szene des Films sehen wir die nackten, wunderschönen Körper von Prostituierten in einem privaten Sexclub. Sie tanzen auf Tischen, präsentieren eine Vogelspinne auf dem Silbertablett, während ein auserwählter Kreis von Männern ihnen dabei zusehen darf. Dieses Spinnen-Motiv angelt sich durch den gesamten Film. Immer wieder tauchen sie auf. Wohingegen sie in dieser ersten Szene noch in realistischer Form und Größe gezeigt werden, erscheinen sie zunehmend verfremdet und werden immer mehr zu einer grotesken Bedrohung. Eine Riesenspinne wacht über den Dächern der Großstadt, ein fantastisches nacktes Mensch-Spinnen-Wesen wandelt kopfüber durch leere Gänge, und eine Spinne steht Adam beziehungsweise Anthony schließlich in überdimensionaler Erscheinung gegenüber.

Ihre Gestalt erinnert stark an die „Maman“-Skulpturen der Künstlerin Louise Bourgeois. Wie der Name bereits verrät, handelt es sich bei diesen Figuren um eine Hommage an Louise’ Mutter. Die Spinne als Freund und Helfer, als Beschützer. Mit ihren langen, dünnen Beinen wacht sie schützend über uns – wie eben über den Dächern der Großstadt. Oder als nackte Frau mit Spinnenkopf. Oder als Ehefrau, die sich verwandelt. Immer wieder hebt Villeneuve die Grenzen zwischen Frau und Spinnentier auf, lässt beide Kreaturen verschmelzen, sie zu einer Fanstasie-Gestalt werden. Bedrohlich und zugleich sinnlich. Dieses Motiv ist nur ein Beispiel von vielen, denn Denis Villeneuve kreiert einen Referenzrahmen, der von Franz Kafka bis David Lynch reicht und es dennoch schafft, eine eigenständige Welt aufzubauen.

„Enemy“ ist ein Potpourri an Illusionen, Wirklichkeiten und möglichen Deutungen – inklusive Mindfuck-Garantie. Doch letztlich ist der Film vor allem eins: ein ästhetisches Gesamtkunstwerk. Die zwiespältige Stimmung, die durch den gelb-braunen Farbfilter erzeugt wird, bleibt von Anfang bis Ende erhalten. Die Frage, „Was ist denn jetzt eigentlich real und was nicht?”, rückt dabei immer weiter in den Hintergrund, bis sie letztlich völlig redundant wird. Der Doppelgänger wird zur Projektionsfläche für die eigenen Ängste. Wer oder was diese Person eigentlich ist, wird unwichtig. Alter ego? Eine zufällige Begegnung? Der eigene Zwilling? Ein Klon? Egal. Aber was kann eine solche Begegnung mit mir und meinem Umfeld machen? „Enemy“ gibt keine Antworten, aber wirft viele Fragen auf, Fragen, die sich ein jeder stellen mag. Die Grenzen zwischen Wahn, der eigenen Imagination und der Wirklichkeit werden aufgelöst und jedem Einzelnen selbst überlassen. Ob der Doppelgänger nur der Feind im eigenen Körper ist, bleibt jedem selbst überlassen.

Meinungen

Teile uns deine Meinung zu „Enemy“ mit. Die Angabe eines Namens, einer korrekten E-Mail-Adresse sowie der Kommentartext sind verpflichtend. Alle Meinungen werden moderiert.

Kinostart: 14.09.2017

Mr. Long

In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Kinostart: 27.07.2017

Django

Étienne Comars Debüt eröffnet mit einem Porträt über Django Reinhardt die 67. Berlinale.

Kinostart: 06.04.2017

Tiger Girl

Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.

Kinostart: 09.03.2017

Wilde Maus

Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Mr. Long

Sabu, Japan (2017)

Zerbrochene Leben und einstürzende Neubauten: In seiner neunten Berlinale-Teilnahme schickt Sabu Rindersuppen in den Wettbewerb.

Wilde Maus

Josef Hader, Österreich (2017)

Selbstmord durch gefrorenes Wasser: Josef Haders Debüt als Regisseur ist ein harmloser Film über Kommunikation und Schnee.

Occidental

Neïl Beloufa, Frankreich (2017)

Italiener trinken keine Cola! Neïl Beloufa verzettelt sich in seinem chaotisch-absurden Kammerspiel-Debüt.

Tiger Girl

Jakob Lass, Deutschland (2017)

Freiheit durch Reduktion: Jakob Lass’ dritter Langfilm zeigt erneut befreites, deutsches Kino basierend auf einem Skelettbuch.