Eben standen sie noch am Fotokopierer und eine Schülerin fragte die andere, ob und wie viel Wechselgeld sie noch habe. Eine Sekunde später liegen sie beide am Boden, zerstoben von Schüssen, die wie viele kleine brachiale Erdbeben aus dem Nichts ertönten. Die Schule als Hort des Wissens, der Zusammen- und Übereinkunft: Sie ist plötzlich hinfort, weil ein junger Mann sein eigenes Leben genauso wenig ertrug wie die Leben der Frauen, die an dieser Schule ihre Zukunft in technischen Berufen planten. Daher teilt er die Schüler auf, als er in ein Klassenzimmer platzt, sortiert sie nach ihrem Geschlecht, schickt die Männer hinaus. Die dort verbleibenden Frauen fühlen sich nicht als Feministen – der Mann erschießt sie dennoch, sein Grund für die Morde ist vage, doch für ihn rechtschaffen genug. Die eine, erste Szenerie leitet Denis Villeneuves nun erstmals in Deutschland erscheinendes Drittwerk „Polytechnique“ ein, die andere Szenerie aber folgt erst im Verlauf, obwohl sie früher stattfindet. Obwohl sie der Anbeginn des Wahnsinns ist, der 1989 an der École Polytechnique, der Polytechnischen Hochschule Montréal Einhalt fand, noch vor Columbine, lange vor Winnenden.
Wie bereits Gus Van Sant mittels „Elephant“ (2003) kreiert Denis Villeneuve in dem Film aus dem Jahr 2009 einen sonderbar schwerelosen Ästhetizismus, welcher in seiner Unchronologie gleichsam vor- und zurückspringt, jeweils abhängig von der Sicht der drei wechselnden Protagonisten. Diese lassen sich in jene drei Kategorien untergliedern, die alle Gewalttaten einen: Opfer, Täter, Zeuge. Doch die Erzählung endet nicht, als auch die direkte Einflussnahme des Täters endet (welcher im Abspann lediglich als The Killer aufgeführt wird), sondern erst, als sich die Leben der zwei Verbliebenen, des weiblichen Opfers und des männlichen Zeugen, von den Geschehnissen ablösen – was in beiden Fällen unterschiedliche Gewalten zur Folge hat. Entgegen Van Sants provokanter Erklärungsnot, die sich zwar den Motiven seiner zwei Mörder nähert, aber dieser vielmehr blind aufzählt, weil sie zwar als Grund dienen könnten, jedoch nicht dienen müssen, dechiffriert „Polytechnique“ den Akt an sich als beinahe mühseliges Spannungspotpourri einer monochromen Farbpalette. Bildgestalter Pierre Gill rotiert um Gesichter, um Münder, Augen und den Schrecken in ihnen, wie er sich ebenso dem hier dunkelgrauen Blut widmet. Da er sich kaum von ihm lösen möchte, pervertiert und sensationalisiert er die Tat jedoch immerzu.
Manchmal sogar scheint es, als stehe weder der Mensch noch die eindrückliche Offenbarung der Gewalt im Mittelpunkt, sondern die filmisch inszenierte Künstlichkeit und der Drang, Realität und Fiktion korrespondieren zu lassen – Erklärungen von außen nach innen zu öffnen, die es in solchen Fällen wenn nur sehr geringfügig und schwer greifbar gibt. Daher überbordet Villeneuve nach einem Drehbuch von Jacques Davidts und Eric Leca schon hier (und in späteren Werken nochmals einnehmender) den ästhetischen Erklärungsversuch: Er fordert Linearität, bietet sie aber selbst nicht. Und dass, obwohl die Erzählung den Trick mit dem Suspense nicht benötigt. Statt zu erstarken, biedern sich unentwegt Einstellungen an, die nach Doppeldeutigkeit und Widersprüchen schreien, so wie das endgültig mit „Enemy“ akzentuierte Doppelgängersyndrom fortwährend in Spiegeln offensichtlich gemacht wird. Da eine strenge Psychologisierung entfällt, bleibt jede dieser drei Figuren Exempel und Plattitüde. Was „Polytechnique“ darin gewiss interessanter und flexibler in der Interpretation macht, als es noch Van Sants „Elephant“ war. Dennoch nagt etwas an Villeneuves Film – und es ist sicherlich auch die filmische Parallele, wenn nicht auch das Paradox zu erklären, was aus den Augen eines Außenstehenden nicht zu erklären ist.
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