Regisseur Rosa von Praunheim, seines Zeichens bekennender Homosexueller, gilt neben Regiegrößen wie Rainer Maria Fassbinder als einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Kinos. Mit den oftmals aneckenden Thematiken, die er in seinen Spielfilmen und Dokumentationen aufgriff, wurde Praunheim zu einem Wegbereiter der filmischen Postmoderne. Sinnfindung, die Suche nach dem Selbst, Identitätskrisen, Sex und Sünde sowie die gleichgeschlechtliche Liebe gehören zu Praunheim wie seine exzentrischen Outfits und extravaganten Hüte. Zumal er nie einen Hehl daraus machte, dass er der schieren Provokation Willen niemals zögern würde, unangenehme und verletzende Wahrheiten zu äußern und, wenn man so will, aus dem Nähkästchen zu plaudern. So erregte er 1991 großes Aufsehen, als er Prominente wie Alfred Biolek und Hape Kerkeling öffentlich und gegen ihren Willen als schwul outete. Es war eine Aktion, die der Regisseur zwar später bereute, die seinerzeit aber eine regsame Debatte lostrat.

Dass bei Rosa von Praunheim nichts zufällig, sondern – wenn auch nur in der Momentaufnahme – mit einem gewissen Kalkül geschieht, wird auch klar, wenn man sich seinen Künstlernamen (eigentlich Holger Bernhard Bruno Mischwitzky) auf der Zunge zergehen lässt: Der von ihm gewählte Vorname ist Reminiszenz und Provokation zugleich, denn er soll an den Rosa Winkel erinnern, den Homosexuelle während des NS-Regimes in Konzentrationslagern tragen mussten. Als Enfant terrible des deutschen Films etablierte sich von Praunheim spätestens im Jahr 1971, als die Deutschen seinen gerade mal 67 Minuten langen Fernsehfilm „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ zu Gesicht bekamen. Der Film entstand 1969 im Auftrag des WDR in Zusammenarbeit mit dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker, unmittelbar nachdem die „widernatürliche Unzucht“ aus dem §175 des deutschen Strafgesetzbuches gestrichen wurde und Homosexuelle vor dem Gesetz nicht länger als Kriminelle gelten sollten.

In dieser Mischung aus Spielfilm und Dokumentation lernt das Landei Daniel (Bernd Feuerhelm), kurz, nachdem er in Berlin ankommt, Clemens (Berryt Bohlen) kennen. Sie verlieben sich ineinander, ziehen zusammen und leben fortan in einer eheähnlichen Gemeinschaft, doch nach nur vier Monaten zerbricht die Beziehung, als der anfänglich scheue Daniel einen älteren, reichen Gönner kennenlernt. Als der alte „Lustmolch“ Daniel betrügt, zerbricht die an Ideale geknüpfte Welt des jungen Mannes, der nun begreift, dass er zu einem Spielzeug, einem Lustobjekt geworden ist. Fortan sucht Daniel sein Glück in der zwielichtigen Schwulenszene Berlins: Es zieht ihn ins Strandbad, Boutiquen, Schwulencafés und -bars, Nachtklubs, öffentliche Herrentoiletten und Parks, die nachts von „Ledertypen“ aufgesucht werden, die auf der Suche nach anonymen SM-Sex sind. Zum Glück wird er gegen Ende von aufgeklärten und selbstbewussten Homosexuellen „errettet“.

Diese machen ihm klar, dass Homos weder schicke Kleidung noch die üblichen Etablissements benötigen, um ihre Sexualität auszuleben und erst recht keine täglich wechselnden Sexualpartner, aber ebenso keinen gekünstelten eheähnlichen Kitsch, um glücklich zu werden. Alles unter dem Motto „Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen“: ein Slogan, der Mangels solider Englischkenntnisse von Praunheims und Danneckers entstand, da sie den Leitspruch der amerikanischen Schwulenbewegung „Out of the closet and into the streets“ („Raus aus den Kleiderschränken/Verstecken, rein in die Straßen“) falsch übersetzten. Amüsant bis verstörend ist die begleitende Erzählerstimme des Films. Der Erzähler, stets mit erhobenem Zeigefinger bewaffnet, erinnert auf skurrile Weise an den Tenor marxistisch-leninistischer Propagandafilme und zugleich an die Aufklärungswerke von Oswalt Kolle. Die stereotypen, antikapitalistischen und teils homophoben Leitsätze, die dieser von sich gibt, lassen den Zuschauer und Zuhörer immer wieder daran zweifeln, ob die Macher des Films tatsächlich selbst homosexuell sind beziehungsweise waren.

Zwar gibt es das ein oder andere Zitat das uns schmunzeln lässt, wie etwa dieses hier:

Die Mehrzahl der Homosexuellen gleicht dem Typ des unauffälligen Sohnes aus gutem Hause, der den größten Wert darauf legt, männlich zu erscheinen. Sein größter Feind ist die auffällige Tunte. Tunten sind nicht so verlogen, wie der spießige Schwule. Tunten übertreiben ihre schwulen Eigenschaften und machen sich über sie lustig. Sie stellen damit die Normen unserer Gesellschaft in Frage und zeigen, was es bedeutet, schwul zu sein.

Doch das meiste, was Praunheim und Konsorten hier fabriziert haben, ist schier grenzwertig. Fast alle Schwulen seien narzisstisch, unfähig zu lieben, promisk, „infantil und dauergeil“, oberflächlich und eitel, von Komplexen und Selbsthass zerfressen, konsumgeil. Sie hätten Angst, sich die Finger schmutzig zu machen und lehnten deshalb harte Arbeit ab, sie würden sich untereinander nur als Konkurrenten sehen und sich untereinander hassen oder seien gar dermaßen ihrer Männlichkeit beraubt, dass sie sich gehüllt in männlicher Kluft „wie Cowboys, Soldaten oder Nazis“ Fetischen widmeten, um sich selbst zu bestrafen. Die Intention, die von Praunheim mit diesem Film verfolgte, ist durchaus legitim:

Unser Film sollte provozieren, Schwule und Hetis aus ihrer Ruhe und ins Gespräch bringen. Wir wollten auf keinen Fall einen Film, der die Schwulen glorifiziert oder bemitleidet. Uns war es wichtig, die beschissene Situation der Schwulen schonungslos aufzudecken.

Und in der Tat erfüllte das Werk seinen Zweck, denn es entfachte eine hitzige Diskussion innerhalb und nicht außerhalb der Gesellschaft, nachdem es 1971 im WDR und zwei Jahre später in der ARD ausgestrahlt wurde. Außerdem fanden zahlreiche Schwule und Lesben innerhalb Deutschlands und der Schweiz den Mut Vereine zu gründen, nachdem sie den Film gesehen hatten. Dennoch verbesserte der Film die gesellschaftlichen Vorurteile nicht, vielmehr verschlimmerte er die Meinung vieler Konservativer. Auch fühlten sich zahlreiche Homosexuelle von „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ verletzt, erniedrigt und falsch repräsentiert, denn der Film zeigte all das auf, was sie nicht sein wollten, wogegen sie mit aller Kraft anzukämpfen versuchten.

Rosa von Praunheims monumental schwuler Verzweiflungsschrei ist vielleicht nicht gerade das, was man als objektiv bezeichnen würde, aber das schrill-komische bis tragische Gesamtpaket, in dem diese „Mockumentary“ daherkommt, ist auf jeden Fall kultig und nach wie vor vermag er zu provozieren, aber man sollte ihn nicht zu ernst nehmen.
Selbst heute ist davon abzuraten, den Film einem jugendlich-naiven Publikum vorzuführen. Für den Schulunterricht ist dieser Film absolut ungeeignet, auch nicht für Schüler über 16, denn Praunheims und Danneckers Polemik, die Stereotype, die sie hier ohne Scham aus der Schublade kramen, könnten zu einem falschen Verständnis von Homosexualität führen und eher auf Unmut, Missverständnis und Scham, als Toleranz und Selbstbewusstsein stoßen. Homophobe und Unentschlossene könnte dieser naiv-aggressive Film leider in ihrer negativen Meinung bestärken.

Insgesamt ist „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ eher als ein amüsant bis interessantes Zeit- und Gesellschaftszeugnis zu betrachten, filmisch hat er jedoch nicht all zu viel zu bieten: Der Ton ist schlecht, stellenweise sogar verzögert, die Dialoge, die Schauspielkünste wie auch die Kameraführung wirken recht dilettantisch. Hier geht es vielmehr um die Wirkung des Films, das brausende Getöse des Drumherums. Glücklicherweise ist die DVD mit solidem und durchaus sehenswertem Bonusmaterial gesegnet, welches den Skandal und die Debatten, den dieser Film heraufbeschwor, erklärt und verdeutlicht.

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