Das Monstrum der Moderne heißt nicht mehr Patrick Bateman – seines Zeichens exquisit-gleichgültiger Yuppie inklusive eines Fetischs zum bestialischen Morden aus Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ –, sondern Lou Bloom: ebenso ein Dieb, Masochist, Egomane, Perverser, Illusionist. Ein vermeintlicher Wohltäter und rigoroser Sportschuh- und Kurzarm-Hemden-Träger, der aus der versifften Träne des Tages in die Nacht kriecht. „Nightcrawler“ nennt Dan Gilroy diese Spezies Journalist. Weil sie im Dunkel den Schmerz des Todes über Kameras aufnehmen, damit der gemeine, sensationslüsterne Bürger um Punkt sechs Uhr morgens das Inferno sieht und sich dabei im sicheren Glauben wiegt, es ginge ihm besser als den armen Kadavern auf den Straßen vor seiner Haustür. Lou Bloom porträtiert die urbane Verwahrlosung. Was er wirklich ist, kristallisiert sich jedoch erst gen Ende, als James Newton Howards ironische Liebelei mit Synthie- und gleichsam verquer-klassischen Emotionskatalysatorklängen ein Ohr zuhält und der unendlich leblose Wahn seines Protagonisten bittere, fanatische Gewissheit wird. Zeichnet Regisseur und Drehbuchautor Dan Gilroy in seinem Debüt tatsächlich den Teufel als animalischen Urmenschen? Oder ist es vielmehr schon der mittelständische Spießbürger – ein Hofmannsthal’scher Jedermann also?
In „Nightcrawler“ scherzt Lou Bloom mit jenem Abziehbild, aber ebenso mit unserer Unbequemlichkeit, dem Glauben an alles und den Taten von letztlich nichts. Lou Bloom lässt schaudern, weil er bereits so viel Maschine, Kannibale und Psychopath geworden ist, dass Gilroy ihn als einen Kerl des seltsam normalen Volks ausgeben kann. Als einen von uns: der grauen Masse auf dem Land, in den Städten, den Bordellen, Lichtspielhäusern. Er fasst in pulverisierende Dialogmanschetten den Drang nach reiner Egozentrik, welche sich in einer einzigen Metapher konkretisiert: „If you want to win the lottery, you have to make the money to buy a ticket.“ Wenn du abräumen willst, dann musst du dir zunächst den Mindesteinsatz leisten können. Für Lou Bloom bedeutet der Satz, zunächst das Gefährt eines Rennradfahrers zu stehlen, damit er dieses gegen einige Dollar und einen billigen Camcorder tauschen kann. Mehr braucht es nicht, um seiner Profession nachzugehen. Mehr braucht es nicht, um als noch resolutere Variation des rasenden Reporters Jack Early aus Joseph Pevneys knarzendem B-Movie-Debüt „Shakedown“ (1950) im Sumpf Los Angeles’ zu schlingern. Aber während Earlys Hatz im glückseligen Tod endet, als er seinen Mörder just zuvor in einem letzten Schnappschuss ablichtet, nährt jeder Zerfall seinen Wiedergänger Lou Bloom nur noch weiter. Gleich seines Namens blüht Bloom auf, je mehr und je öfter er Gewalt sieht und selbst inszeniert. Einmal sagt er, im Fernsehen wirke alles so real. Was aber ist für ihn wirklich real? Dan Gilroy weiß darauf keine Antwort. Als er sich schließlich an seinem simplen Narrativ übersteigert, entfremdet er sich sogar kurzzeitig von der Diabolie seines American Psycho.
Nicht zufällig heißt eine Untergattung des Regenwurms, der unter Anglerfreunden so begehrte dicke, feste Riesenrotwurm, im Englischen auch Nightcrawler: Regnet es, dann bricht er hervor an die Oberfläche; regnet es nicht, zieht er des Nachts Blätter unter die Erde, um sie dort erst verrotten zu lassen und später zu fressen. Nichts anderes ist Bloom schließlich: der Masturbator zum letzten Menschenrumpf. Die einzige Frau seines Lebens heißt Nina – und er kauft sich die auch sexuell imprägnierte Freundschaft zu seiner Geldgeberin mittels eines Deals. Will sie in der Fernsehanstalt überleben, braucht sie seine Filme. Jake Gyllenhaal spielt ihn, Lou Bloom, und er spielt ihn hager, getrieben, aus aufgerissenen, diffusen Augen, mäandernd, steif, manisch; Rene Russo spielt sie, Nina Romina, und sie spielt sie entrückt, zerfressen, unsicher, wie die Laufmasche einer Strumpfhose. Im Laufe des Films kollabiert die Dynamik zwischen ihnen zu wahnwitziger Lust und Zynismus – ohne auch nur eine Intimität explizit zeigen zu müssen. Dan Gilroy wagt ohnehin viel lieber den Blick aus den Angeln, aus der Fremde und den steifen Milieumauern Robert Elswits, als sich in Definitionen und Interpretationen über seinen Protagonisten zu wagen. „Nightcrawler“ mag dies die psychologische Tiefenwahrnehmung rauben, doch schaukelt gleichsam durch intensiv-geordnete Verfolgungsjagden – mal lediglich gegen die Zeit, mal gegen den realen Kriminellen auf der Straße.
Wenn die Welt mit einer letzten Prise Sehnsucht zu Ende geht, dann wird Lou Bloom sie filmen. Ihren Untergang, ihr Niederknien, ihr Lechzen nach Leben, ihre Erkenntnis. So lange, bis alles hinfort ist: der Mensch, sein Haus, sein Auto, seine Liebe, seine Arbeit. Menschen wie Lou Bloom kommen aus dem scheinbaren Nichts. Doch sie verschwinden nicht mehr. Einmal erweckt, fressen sie stattdessen das Wohlstandsspeckgerüst des modernen, standardisierten Homo sapiens mit dessen eigens kreierten Marotten auf. Ihre Kamera wird immer an sein, das rote Licht immer leuchten, ihr kussroter Dodge Challenger immer knattern. Was Ebola für die Pharmaindustrie, ist der Parasit namens Lou Bloom für den Journalismus: Beide Kartenhäuser würden einstürzen, gäbe es Erstere nicht. Welch dreckiges System – und welch automatisiertes, lüsternes Debüt mit Verve und einem garstigen Stachel gegen den banalen Konsum, der das Volk bis in die Bedeutungslosigkeit treibt. Gier ist gut.
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