Per zögerlichem Abbiegen in die eigentlich ungeplante Lebenslinie. So versetzt Regisseur Steven Knight, Fachmann fürs Dramatisch-Grobe (Autor, „Eastern Promises“), seinen Hauptdarsteller Tom Hardy als konfliktreichen Vorarbeiter Ivan Locke ohne große Umschweife in ein angenehm zielstrebiges, 85-minütiges Kammerstück auf der britischen Autobahn. Denn mit dieser simplen Fahrtrichtungsänderung zieht ein langsam eskalierender, intimer Shitstorm auf, der, wie der deutsche Verleihtitel schon theoretisch spoilerig verspricht, letztendlich „No Turning Back“ erlaubt.
Der Mann begibt sich nämlich nach London, um der Geburt eines Kindes beizuwohnen. Das Dumme an der Sache ist nur: Es ist nicht von seiner Ehefrau, mit der er schon zwei Teenager-Söhne hat, sondern von einer anderen, älteren Dame, die er als Sekretärin bei einem drei-monatigen Bauunternehmen kurz kennenlernte und im Suff schwängerte. Apropos Bau, für die folgende ungewisse Fahrt lässt er auch einen großen Auftrag, den er betreuen sollte, im Raum hängen – teilt diesen per Telefon seinem nicht so erfahrenen Kollegen Donal (Andrew Scott) zu, der, wie alle Bekanntschaften, die Locke schweren Herzens im Verlauf anklingelt, folgerichtig die Fassung verliert.
Es ist eine Nacht der Entscheidung, die sich nun mal nicht vermeiden lässt – denn obwohl unserem gewissenhaft-nervösen Locke alles an seiner geregelten Existenz zu zerbrechen droht, gibt es auch einen ganz simplen, aber weitreichenden Grund, warum er dieses Martyrium für eine ihm nicht wirklich nahestehende Frau auf sich lädt: die Sünden des Vaters, der ihn ebenso als uneheliches Kind, als Bastard (ein Leitwort in diesem Film, hat Locke doch auch seinen Vorgesetzten Gareth unter der Bezeichnung im Adressbuch eingespeichert) in die Welt setzte.
Denselben Fehler der verdrängten Verantwortung und versagten Liebe möchte er, der allein gelassene Sohn, nicht mehr begehen, stattdessen den Namen Locke reinwaschen, wie er seinem Vater, offenbar metaphysisch auf dem Rücksitz seines BMW verharrend, in den weniger subtilen Sequenzen des Films wütend, aber engagiert mitteilt. Es wundert aber kaum, dass Locke Geister sieht, mitten im nächtlichen Lebensstrom, umgeben von einem Meer der Neonlichter, das lauwarm und schleppend an ihm vorbeizieht und per Kamera und Schnitt durchweg umschlingt, schummrig wabert, auf- und abblendet. Hier wandeln die Seelen im melancholischen Limbus, ob nun im Sinnbild der Zelle „Auto“ oder der Dimensionen verbindenden Freisprechanlagen und GPS-Karten.
Darin muss Locke zwangsläufig alles Vergangene abwerfen, etwas Anderes lässt die eingeschlagene Bahn nicht mehr zu, auch wenn er das noch nicht komplett einsehen mag, und dennoch seinen Job und vor allem seine Familie potenziell-fatalistisch dem Pflichtbewusstsein wegen opfert. Und Schnupfen hat er dazu auch noch – da findet er neben einem reißenden Ansturm an Anrufen einfach keine Ruhe. Aber am anderen Ende seines Weges wartet zumindest neues Leben, von dem er hofft, dass er es mit dem Früheren verbinden kann; eine sichere Grundlage für die Zukunft schafft, wie er es auch für sein geplantes Hochhaus-Projekt vorsieht, dass er durchweg dringlich, zeitweise aber auch humorvoll noch mit Donal durchgeht, damit ja keine stetig vergrößernden Risse entstehen – eine bezeichnende Parallele für sein eigenes, zersetzendes Schicksal.
Die bittere Konsequenz des Abschiedes bleibt ihm schließlich dennoch nicht erspart, seine Gattin kann ihm seinen einmaligen Fehler nicht verzeihen, auch wenn er sich diesem ohne Ausrede stellt – ein allmählich wachsender Optimismus im Neuanfang, aus seinen frisch geborenen, liebebedürftigen Kreationen heraus, befreit aber seine individuellen Zweifel und Schmerzen und lässt auch Vergebung vonseiten seiner Freunde und Söhne aus zu (siehe dazu ebenso Stephen Knights thematisch ähnliches Actiondrama-Regiedebüt „Redemption“). Die Intensität der zwielichtigen Nacht/Seelenpein löst sich sodann auch auf und wir steigen hoch zum Blick auf den universellen Fluss der menschlichen Existenz, in dem Locke und wir uns wieder einklinken dürfen, sowieso schon längst wiedererkennen.
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