„Rubber“, „Wrong“ irgendwann vorher, nun also „Reality“. Der wagemutige Hasardeur Quentin Dupieux lebt in einer abwegigen „Realität“: in Spieloasen und Sandkastenplätzen, in verbotenen Zonen und abgesperrten Bereichen. „Reality“ schraubt vielleicht die spleenigen Ekzeme beider Vorgängerwerke zurück. Es geht nicht mehr um die Ausschmückung einer paradoxen Zwischenschöpfung. Es geht diesmal um die betuchte Zerschlagung und boshafte Verunstaltung alltäglicher Handgriffe. Meta. Klar. Kino-selbstreflexiv. Klar. Aber man kann den Menschen folgen, ihren Gesten, ihren Bildern. Weitgehend. „Reality“ wagt kein formales Probieren, nicht signifikante Künstlichkeit. Dass sie, die Figuren, in einer albtraumartigen Parallelrealität neben der unsrigen eingeschlossen sind, wird allenfalls zaghaft ins Bewusstsein des Zuschauers gespült. Zum Beispiel der gellende Lärm, wenn eine Haus- und Autotür zugeschlagen wird, wenn ein Schuss aus einem Jagdgewehr entweicht. Dies ist vermehrt der Fall – Ohren zerfetzend geradezu überhöht sich der Ton zur (Aufwach-)Explosion. Dupieux kombiniert ansonsten das Beste aus „Rubber“ und „Wrong“, die schnippische Filmkritik aus „Rubber“, die smarte Suche nach Zufriedenheit aus „Wrong“, obgleich der „Radiergummi“ auch hier das Richtige satt das „Falsche“ wegretuschiert. Wenn man es nicht besser wüsste, müsste „Reality“ eine Versuchsanordnung über das Sinnlose sein. Er ist jedoch eine über das Sinnlose im Nichts.

„Rubber“ verfolgte einen Killerreifen durch die Pampa mit mürrischem Publikum, „Wrong“ hingegen einen deprimierenden Büroangestellten, der seinem verschwundenen Hund hinterher taumelte und dabei eine ausreichend kreative, hinlänglich unperfekte Mitwelt erlebte. In „Reality“ spielt Alain Chabat diesen liebenswürdigen, quer reisenden Irren, den Chef-Kameramann einer abwechslungslosen Kuchen-Koch-Show im Fernsehen, dem eine eigene begierig vorgetragene Filmidee vorschwebt: Science-Fiction, tödliche Strahlen aussendende TV-Geräte, eine daher verdummende Bevölkerung, mutiert zu Zombies. Den Schlüssel zur Produktion muss sich Jason Tantra (Chabat) noch ausdenken – der maßlose Schmerzensschrei der TV-Wellen-Ansteckung. So verbringt er seine freie Zeit bis zum Ultimatum damit, Schreie, Schnaufen und Gestöhne aufzunehmen. Ihn treibt es zu Fitnesscentern, Unfallopfern und Psychiater-Parkplätzen, um das ausgegebene Ziel des dafür vorgesehenen Oscars durchzusetzen. Umrandet von verstiegenen Produzenten, die auf Zufallstouristen schießen (vgl. Luis Buñuels „Das Gespenst der Freiheit“), Schuldirektoren in Frauenkleidern und Militärfahrzeugen, fleckenentstellten Ärzten, frustrierten Show-Moderatoren mit Phantomschmerzen sowie toten Tieren, deren Ausweidung abspielfähige Videotapes hervorbringt, beschwört Dupieux abermals ein Sammelsurium surrealer Marotten.

Dass Dupieux nicht wie Kubrick hantiert, wird in „Reality“ selbst Wort für Wort artikuliert. Der Film ist weit davon entfernt, einer Perfektion aufzusitzen, sondern assoziiert sich schreiend komisch über Blitzeinfälle (erschöpfende Small Talks zum Thema Zigarettentechnik), Gemütsschwankungen und Verdopplungen einer schizophrenen Karussellverkettung, die alle Charaktere der Charaktere im Traum des Traums im Chaos des Geschehens vor dem zu Geschehenden aneinander bindet. Die hierin eingefädelte Metaebene, einem Film beizuwohnen, der, infolge eines französisch-elitären Studiobosses, einen Film kritisiert, da er die Geduld strapaziert, ist ein subversiver Wink mit dem Zaunpfahl, wie wir rezipieren und rezipieren wollen, was das Kino soll und was das Kino nicht darf. Auch „Reality“ stellt die Geduld seines Publikums auf eine Probe, indem er konzentriert-meditatives, kompromisslos-sperriges Bildmaterial liefert, das nicht geeignet ist, in diesem zu lesen und zu erfahren. Zu anschlusslos, zu triebgesteuert, zu erwartungszerstörerisch. Was fortbesteht, ist die Halbtotale eines Mädchens vor einem Fernseher, das voller Voranspannung zum flackernden Bildschirm sieht – in Erwartung des Geheimnisvollen, das entschlüsselt wurde. Klarer Blick. Diesen kann und will Dupieux selber nicht geben, die Kamera noch weniger. Was bleibt, ist Schönheit, die soll, darf und muss. Was bleibt, ist Schönheit fortdauernder Schwankung im Haupt- wie Nebensächlichen.

Meinungen

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