Ein Mann mit abgehackten Händen bittet den Säulenheiligen Simon um Hilfe. Nach dem gemeinsamen Gebet sind seine Hände wieder da und er sagt unbeeindruckt zu seiner Frau: „Lass uns heimgehen, wir müssen den Gemüsegarten ausheben!“ Die Frau antwortet: „Wir müssen einen neuen Spaten kaufen, unserer ist abgenutzt!“ Ihr Kind wirft ein: „Zeig mir deine Hände, Papa, sind sie dieselben?“ Was macht der Mann mit seinen frischen Händen? Er schlägt das Kind erst mal damit.
Wunderbar, wie Luis Buñuel allein in ein paar Sekunden mit großartigen Details alles sagen kann, was er sagen will. Wozu Wunder, wenn sie nicht als solche wahrgenommen werden? Wozu Wunder, wenn sie missbraucht werden? Buñuels Ansicht, dass das Sakrale der katholischen Religion und besonders ihre Vertreter und Anhänger vielmehr eine schamlose Scheinheiligkeit ausleben, zeigt sich in seinem letzten mexikanischen Film aus dem Jahre 1965 nur zu gut. Buñuels Stellung zur Religion ist kompliziert und erfordert große Kenntnis seiner Werke und seiner Person. Neben „Das goldene Zeitalter“ (1930), „Viridiana“ (1961) und „Die Milchstraße“ (1969) bietet sich jedoch „Simon in der Wüste“ ideal dazu an, zumindest einen Teil dieser komplexen, religiösen Ambivalenz zu belichten.
In prägnanten Dialogen bringt er teils grotesk und satirisch, teils ostentativ jene Hypokrisie ans Licht und verpackt sie subtil. So lehnt Simon seine eigene Mutter ab, seine wirkliche, leibliche Schöpferin, um auf seiner Säule näher bei Gott zu sein. Er ist ignorant und überheblich, schreit Gott zu: „Der Mensch ist die jämmerlichste deiner Schöpfungen, Gott! Seine bloße Existenz bringt mich von dir weg.“ Er ist überzeugt davon, übermenschlich zu sein, weswegen er stur Essen und Trinken verweigert. In seinem immer größer werdenden Wahn gewinnt jedoch der letzte Funken Verstand beziehungsweise sein Körper, der ihm mit Hunger und Durst signalisiert, dass er ein genauso „jämmerlicher“ Mensch ist wie alle anderen. Auch Satan, in Gestalt der verführerischen Silvia Pinal, tritt auf. Doch hält Simon stand? Buñuel überrascht wie immer mit seiner unbändigen Kreativität, sein Genie lässt sich in jedem Satz, in jeder Einstellung erkennen. „Simon in der Wüste“ ist ein grandioser Kurzfilm von 45 Minuten, der auf seine Art und Weise einzigartig ist und sich absolut problemlos in die Reihe der subtilsten Blasphemien einordnen lässt.
Wenn man die Werke des Spaniers näher betrachtet, erkennt man seinen außerordentlich konsequenten Willen, etablierte Normen, etablierte Formen, etablierte Konventionen subversiv auseinanderzunehmen, zu entblößen und die Falschheit ihres Nacktseins an die Wand zu nageln. Dazu bedient er sich provokanter Symbolik und schafft es immer, den richtigen Nerv zu treffen. Er hegt Kritik an Dingen, die fest im Menschen verankert sind. Daher wirkt sie so tief greifend – und das ist sie auch.
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