Oh, die Jugend; welch rätselhafte, schwierige Zeit. Eine Zeit der Krise und Selbstfindung – und der selbst gewählten Rebellion gegen das Elternhaus. Besonders für die bedauernswerte India Stoker (Mia Wasikowska), deren Nachname allein schon Potenzial für drohende Spottreime ihrer Mitschüler liefert. Bis die junge Frau frühzeitig in Park Chan-wooks „Stoker“ den Tod ihres Vaters hinnehmen muss, der in einen mysteriösen Autounfall verwickelt wurde. Kurzerhand taucht sein bislang unbekannter Bruder nach der Beerdigung auf, und Onkel Charlie (Matthew Goode) verschwendet keine Zeit, sich der nicht allzu trauervollen Mutter Evelyn (Nicole Kidman) anzunehmen. Das Kind in dieser Erzählung jedoch plant in seinem Verdruss den seltsamen Ereignissen auf den Grund zu gehen.
Wem die Jugend gehört, dem gehört die Zukunft.
Der Beginn zunächst wirkt wie eine zeitgemäße Adaption „Der Tragödie von Hamlet“, auch wenn die Deutung hier eine weibliche ist: Während der Vater leidlich tot ist, macht es sich die Mutter mit dem unheimlichen Onkel bequem. Ein wesentlich erheblicher Einfluss kommt allerdings Alfred Hitchcock und nicht Shakespeare zugute, der in Wentworth Millers („Prison Break“) Drehbuchdebüt als Katalysator der Handlung fungiert; wobei Hitchcocks nahezu idyllische Vorstadtstudie „Im Schatten des Zweifels“ von 1943 in eine oberflächliche Mixtur der Berechenbarkeit überführt wird. Damals war es Joseph Cotton, der ein unergründliches Porträt des Onkels Charlie vorgab und seine bisher profilierte Rolle als Gutmensch rigoros einsetzt um einen umtriebigen Witwenmörder zu verharmlosen. Wer wen mordet, ist so offensichtlich, es wäre nur einer Randnotiz in Hitchcocks Zerstörungswahn würdig; doch ist diese ohne Gleichen reizvoll. Die Ähnlichkeit mit „Stoker“ endet jedoch schon in den Banden zwischen Männern und ihren Nichten.
Noch weniger gemein hat „Stoker“ jedoch mit der Odyssee des im Diesseits treibenden Oh Dae-su in Parks Meisterstück seiner Rache-Trilogie, „Oldboy“. Während dort noch von Menschen und den Mechanismen erzählt wird, die uns erst zu den Kreaturen reifen lassen, die wir überhaupt menschlich nennen, wirkt der zwanghafte Umzug in den westlichen Kulturkreis wie ein Raub an dieser Magie – in der das Kaltblütige die Adern zwar gefrieren lässt, doch mit exzessiver Liebe füllt. Denn hinter all der Brutalität verbirgt sich eine rauschhafte Kraft, die erst im Kino des Koreaners aufblüht. Schließlich zeigt Park unter formvollendeten Bildern und sphärischer bis kochender Musik die Natur des Menschen; jene Wut, die durch Baseballschläger, Messer, Schraubenzieher und am rohsten aus bloßen Fäusten bricht. Schockierend ist nicht, was wir sehen, sondern allein wie nah wir uns dessen fühlen.
Was jedoch in „Stoker“ bleibt ist der nun imaginäre Rachefeldzug Charlies, der in Wentworth Millers Drehbuch in groteske Überzeichnung mündet und eine Botschaft zu formen versucht: über innerfamiliäre Strukturen und den Wahn der Mütter. Das wäre beileibe spannend, doch lässt eine Deutung vermissen, die dem reinen Unterhaltungsgefüge entgeht. Ein vages Dickicht an Theorien täuscht nicht über die blinde Struktur hinweg, die sich in Anspielungen verstrickt und selbst das Bild eines Weberknechts, der Indias Bein hoch tippelt und unter ihren Rocksaum schlüpft, als genau das belässt – ein Bild; interessant zwar, aber bedeutungslos. Ohnehin dichtet Miller eine provokante Symbolik hinzu, die vor Perversion strotzt und den Charakteren wenigstens geringfügig Figurenzeichnung überträgt; leider ist es nicht viel mehr als der Versuch diesen mit Hollywoodtugenden gefüllten Schocker einen Funken Experimentalität aufzuzwängen.
All die Raffinesse, die ein Thriller besitzen sollte, beseitigt das Drehbuch schließlich mit berstender Suggestivkraft. Etwas stimmt nicht, das ist früh klar, noch ehe Wendungen einsetzen, denen es an Überraschung und Unkonventionalität mangelt. Tatsächlich wird „Stoker“, dafür das er so eklatant von den Werken Hitchcocks inspiriert ist, zu einer Antithese des Master of Suspense, indem er in übertriebenem Tonfall dem Film alle Bedrohung raubt, anstatt feinfühlig das Geheimnisvolle einzufordern. Es scheint, als ob Park die Offensichtlichkeit der Geschehnisse bewusst gewesen wäre: Versteckt agiert in „Stoker“ lediglich das Schauspiel seines hochkarätigen Ensembles. Besonders Mia Wasikowska wird die undankbare Aufgabe zuteil mit India eine Figur verkörpern zu müssen, die dumpfer und einfältiger nicht sein könnte. Dabei transportierte diese erst im Jahr 2011 Charlotte Brontës Heldin in Cary Fukunagas „Jane Eyre“ noch mit Esprit und Vitalität ins 21. Jahrhundert; nun darf sie höchstens mit geweiteten Augen und leerem Ausdruck auf dem Anwesen der Stokers lauern.
Durchaus bemerkenswert dagegen: Park Chan-wooks gewohnt filmische Stärke, die ein übellauniges und drohendes Erlebnis erschafft und die durchschaubare Natur zu zerfressen vermag, wenn denn nicht die Schwächen des Drehbuchs entgegenwirken. Zuweilen verkommt die atemberaubende Bildsprache zu einer schlichten Fingerübung in Maßlosigkeit; die Aktionen auf der Leinwand überdenkt sie allerdings nicht. Während sich der Stil munter entfaltet, suchen wir nach einer übergreifenden Vision in dieser exzentrischen Realität, in der ein Ei gegen den Tisch gedrückt wird, bis die Schale von Rissen durchsiebt ist. Die intensive Optik besitzt dieselbe unverhohlene Zweideutigkeit, die schon das Drehbuch zerfasert und eine Erzählung für Wendungen opfert. Vielleicht ist die Kälte in „Stoker“ als Gesellschaftskritik aufzufassen, und findet in Parks überaus technischer Ausführung einen Anker, wo das befremdliche Gefühl seinen Charakteren gegenüber vorsätzlich ist.
Nur da India und Charlie Stoker gemeinsam in die Zukunft treiben, bewegt dieser Film eine Ahnung des Dunklen und Originellen. Doch schon treffen wir wieder auf die erste wundersame Sequenz der meuchelnden India, breitbeinig mit einem Gewehr in den Händen; ein Motiv, das Park Chan-wook zu genießen scheint. Und in den Gesten makelloser Handwerkskunst schwingt noch immer ein zutiefst leerer Film, in dem Handwerk und Manipulation lediglich Selbstzweck sind.
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