Wenn sich ein neuer Film von Quentin Tarantino ankündigt, sind cinephile Teenager und sporadische Filmfans vor ekstatischer Vorfreude sofort aus dem Häuschen. Der amerikanische Kultregisseur ist längst zur Marke geworden, die für jede Menge Kunstblut, dreckige Dialoge und peppige Soundtracks steht, und hat sich in Hollywood eine großzügige Lobby erarbeitet, die ihm viele Freiheiten gewährt. Und so hatte er sich für sein neuestes Werk „The Hateful 8“ etwas ganz Besonderes ausgedacht: Der Film sollte auf 70-mm-Filmmaterial gedreht werden; alte Objektive, die schon bei William Wylers „Ben Hur“ (1959) zum Einsatz kamen, wurden dazu verwendet, um die riesigen Bilder mit unglaublicher Detailtreue einzufangen. Tarantino selbst konnte erwirken, dass der Film zu seinem US-Start ausschließlich in Kinos mit 70-mm-Projektoren lief, zusätzlich mit einer extra für den Film geschriebenen Morricone-Ouvertüre. Böse Zungen würden behaupten, Tarantino sehe sich, mittlerweile unter der stetigen Lobhudelei seiner treuen Fangemeinde in Selbstverliebtheit versunken, als eine Art Messias unter den Regisseuren, der meint, er könne den Film der Gegenwart mit solchen groß propagierten Ausgefallenheiten wieder neu erfinden. Ohne ihn von dieser Unterstellung gänzlich freizustellen, liegt der Verdacht näher, dass der Regisseur der Arbeiterklasse, der sich jüngst erst fragte, was die Menschen heutzutage überhaupt noch für Gründe hätten, aus ihrem Haus zu gehen, um einen Film auf einer Leinwand zu sehen, Kino zumindest für eine kurze Zeit wieder zu einem echten Feiertagsritual machen möchte, bei dem den Menschen für horrende Ticketpreise gewisse Extras geboten werden sollen. Der Rest ist ohnehin wieder das, was Fans bereits kennen und lieben und Kritiker so langsam nicht mehr sehen können: „The Hateful 8“ ist wieder ein typischer Tarantino-Film geworden.
Mehr sogar: Der selbst ernannte Filmfreak kehrt zu seinen Ursprüngen zurück und inszeniert einen kammerspielartigen Film, so als wolle er den an den üblichen Kinderkrankheiten eines Regiedebüts leidenden „Reservoir Dogs“ noch einmal (und diesmal besser) machen. Diesmal dient Minnies Miederwarenladen als Zuflucht der gesetzlosen Raubeine, unter denen sich, wie sich später herausstellt, auch mindestens einer befindet, der nicht der ist, der er angibt zu sein. Wie schon in Tarantinos Erstlingswerk versucht der Film, seine Suspense daraus zu ziehen, den Zuschauer für lange Zeit genauso im Dunkeln zu lassen wie seine Figuren. Und das gelingt ausgezeichnet. Wo noch eine auffallend lange Kutschfahrt zu Beginn sich nicht gänzlich dem Vorwurf entziehen kann, Scriptwriting eines Mannes zu sein, der sich einfach selbst gern beim Reden zuhört, ist sie jedoch auch eine amüsante Einführung in die unberührte Welt seiner paranoiden Figuren, die sich im weiten Schatten einer neuen Gesellschaftsordnung wieder zurecht finden müssen. Natürlich aber weiß sich „The Hateful 8“, abgesehen von seinen Gangstercharakteren, den erneut engagierten Michael Madsen und Eli Roth und den typischsten Merkmalen des Regisseurs, ein Stück weit zu emanzipieren. Nachdem Tarantinos Versuch, einen Western zu drehen, noch mit „Django Unchained“ grandios gescheitert war, kommt er hier seinem Ziel zumindest deutlich näher. Auch wenn die weite, winterliche Hügellandschaft für einen 70-mm-Film merkwürdig selten und nur zu Beginn eingefangen wird, sie bleibt unter dem dauerhaften Pfeifen des Windes in und um der Hütte, in der der Hauptteil des Films spielt, ein stets präsentes Motiv. Zudem sind 2Pac und RZA einem Ennio Morricone gewichen, der nun tatsächlich den größten Teil des großartigen Soundtracks komponieren durfte und über den für einen Western ausreichend kernigen Cast musiziert.
Wenige Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg hat der Kopfgeldjäger John Ruth (Kurt Russell) die auf eine 10.000 Dollar hohe Prämie, tot oder lebendig, ausgesetzte Daisy Domergue (das schauspielerische Highlight: Jennifer Jason Leigh) zu seiner Gefangenen gemacht und sucht sie im nächstgelegenen Ort dem Sheriff (und damit dem Galgen) zu überführen. Dass er sie lieber der herkömmlichen Exekutive übergeben möchte, anstatt legale Selbstjustiz zu betreiben, was beinahe alles vereinfachen würde, ist eine Tatsache, die der Zuschauer wohl oder übel so hinnehmen muss. Denn ohne eine lebendige Daisy gibt es keine Story. Wer dieser Hateful Eight möchte sie selbst töten, um das hohe Kopfgeld zu kassieren? Oder möchte sie gar jemand befreien? Der Schwäche des Aufhängers kommt Tarantino mit einem zusätzlichen Charakter entgegen: dem historischen Hintergrund. Der Bürgerkrieg ist längst vorüber, das Land von Sklaverei befreit, doch die Nation ist immer noch gespalten. Die immer noch gefährliche Mischung aus feudalen und modernen Gesinnungen verursacht zwischen den Figuren immer wieder hohes Reibungspotenzial und ist Auslöser für die vielen zwischenmenschlichen und letztlich tödlichen Missverständnisse, die sich im Mikrokosmos der Hütte ereignen. Am Ende geht es auch darum, wer mit der Zeit gehen möchte und imstande ist, sich mit einer neuen, humaneren Gesellschaftsordnung zu arrangieren. Der könnte eine Chance haben, das blutige Fiasko überleben.
Natürlich, und das passt zu dieser rauen, kränklichen Welt, schaffen es auch Lügner und Betrüger sehr weit. Der Film ist voll von solchen Typen. Jeder verarscht hier jeden und der Zuschauer selbst bekommt oft nicht wirklich etwas davon mit. Genau das macht „The Hateful 8“ herrlich aberwitzig und unberechenbar, wenn man sich immer wieder Nägel kauend die Frage stellen muss, auf wen der Schuss als nächstes fällt. Einen klassischen Protagonisten, und das ist eine Stärke dieses fesselnden Skripts, sucht der Film mehr oder weniger vergebens. Das ist zugegeben eine jugendlich-naive, teils gar primitive Freude, die Quentin Tarantino bei diesem munteren Scheibenschießen erneut zelebriert und Kritiker wieder vor komische Rätsel stellt: Macht es einen bereits Toten noch „toter“, wenn man ihm auch noch den Kopf wegschießt? Oder kann man Blut in Strahlen kotzen? Vielleicht ist „The Hateful 8“ gar noch angreifbarer als jeder andere Tarantino-Film – doch das zeigt auch, wie stark der Regisseur an seinem Duktus festhält, humorlose Nüchternheit aus dem Kino zu verbannen und dem Publikum stattdessen eine Show zu bieten, die den Schuljungen beziehungsweise das Schulmädchen in Jedem entfesseln soll. Tarantino selbst ist sowieso niemals richtig erwachsen geworden und genau deshalb sündigt er wieder und wieder. Denn es fällt leicht, über die Sünden von Kindern hinwegzusehen. Das Lachen, das sie geben, ist bekanntlich tausendmal kostbarer.
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