Wer in seiner Kindheit und Jugend mal fertig gemacht, drangsaliert, missverstanden und enttäuscht wurde, ist sofort auf der Seite von Dawn Wiener (Heather Matarazzo) aus der Benjamin Franklin Junior High School in New Jersey – nur, dass es bei ihr noch mal eine gute Ecke schlimmer abgeht als beim Großteil der alltäglichen Mobbing-Opfer. Regisseur Todd Solondz zeichnet in „Willkommen im Tollhaus“ (Originaltitel: „Welcome to the Dollhouse“) ihr gegenüber eine Verachtung und Demütigung im familiären und schulischen Leben auf, dass man schon schwer schlucken muss. Umso stetiger wünscht man Dawn Entlastung – doch auf Katharsis verzichtet Solondz ebenso wie auf ausgewiesene Mitleids-Dramaturgie oder den Fingerzeig auf soziale Missstände. Empathie empfindet man hier auf natürlichem Wege; ohnehin klärt sich Dawn genervt im Widerstand ab. Der Manierlichkeit halber seufzend, lohnt sich das Aufmucken zwar meist nicht für sie, da sich dadurch noch mehr Ärger anstaut. Dass sie es trotzdem macht, ist dann vielleicht auch nicht die schlauste Option, doch jugendliches Ungehorsam ist genauso ein Grundrecht wie die Würde des Einzelnen.

Darüber darf Dawn sogar einen Vortrag halten. Obwohl: Sie wurde dazu von ihrer Lehrerin verdonnert, nachdem diese sie aus nichtigen Gründen zum Nachsitzen abkommandiert hatte und ihr zudem noch eine zweite Chance bei der Klassenarbeit entsagte. Nichts ist hier fair. Die Brutalität der einschlagenden Seelenpein kommt dabei nicht mal von ungefähr: Wo andere Filme jene bekannten Problematiken des sozialen Unvermögens auf dem Schulhof zu gefälligen Dramatisierungen abstrahieren, hält Solondz voll drauf; lässt vor allem das giftige Vokabular frei, das derartige Räudigkeiten mit sich bringen. So was verletzt und schüchtert ein, droht sogar ganz ungeniert mit Vergewaltigung, doch fast keiner aus Dawns näherem Umfeld will und wird bis zum Schluss auch nichts davon wissen – selbst wenn sich der Unmut ganz klar an ihr abzeichnet. Das Dollhouse des provinziellen Americana schert sich sowieso nicht um die Wünsche des Individuums. Unterordnung ist angesagt und Popularität wirkt auch in der Familie als maßgeblicher Faktor.

Als Zweitgeborene steht Dawn zwischen dem herrischen College-Anwärter Mark (Matthew Faber) und dem jüngeren Mommy-Darling im Tutu, Missy (Daria Kalinina). Wer bevorzugt wird, ist klar. So gibt es auch ständig Reibungen im Haushalt und Dawns Bocklosigkeit ist nur allzu gut nachzuvollziehen, wenn sie extra für ihr Dasein bestraft wird. Dennoch stilisiert Autorenregisseur Solondz sie nicht zu einer Märtyrerin oder einer Galionsfigur der Teenage-Rebellion, trotz fast gänzlich fehlender Bezugspersonen. Dawn ist auch bloß ein naives junges Mädel, das von älteren Jungs schwärmt, sich faul in die Fernsehcouch (mit Getränk!) lümmelt und ein mickriges Klubhaus für ihre Special People im Garten aufstellt. Da macht sie sich auch ein Stück weit selbst zur Zielscheibe, erst recht anhand ihrer nerdigen Erscheinung inklusive Riesenbrille; doch so energisch, wie sie an ihrer Eigenständigkeit festhält, kann man ihr wohl kaum gram sein.

Ihre Mitmenschen pfeifen jedoch auf Verständnis und bieten ihr höchstens eine Aufmerksamkeit im Quälen. Allen voran Problemjunge Brandon (Brendan Sexton III). Der promoviert vom Piesackenden zum Bedrohenden, wo doch schon der Rest der Schule aus der Steilvorlage ihres Familiennamens den Wiener Dog über die Flure grölt. In dem Alter steht aber auch allmählich das Coming-of-Age, also gleichsam die Erforschung der Sexualität an. Unter diesen Umständen ist Dawns Weg ein durchaus verzerrter: Der ältere, aufreizende Kollege von der Band ihres Bruders, Steve (Eric Mabius), wird zum unnahbaren Ideal, während sich Brendan ihr höchstens mit sexueller Gewalt zu nähern versucht. In ihrer Ungewissheit fängt sie selbst damit was an, wo doch klar ist, dass bei ihm ebenso der Haussegen schief hängt. Aber das ist genauso zum Scheitern verurteilt, wie sie auch der sonstigen Härte der Jugend nur schwer entkommen kann. Wie erwähnt, gibt Solondz den naiven Genre-Wünschen keinen Freiraum, lässt Dawn darin aber zumindest noch die Würde des Lebens und Leben lassens über.

Man mag es an den Beschreibungen ihrer Situation nicht glauben, doch darin lässt sich eine Menge Humor finden. Todd Solondz schafft aus der Ermattung seiner Protagonistin gegenüber dem Druck von außerhalb Pointen des Zynismus, weil auch sie zunehmend zynischer wird – sowohl spürbar als auch im Vokabular; der Soundtrack veräußerlicht dazu auch immer wieder mal ein ruppiges Gitarrenriff. Der Kampf gegen die Hypokrisie des Elternhauses und dessen psychologischer Blindheit ist nur die Spitze des Eisbergs, welche zum Mitfiebern und -lachen einlädt. Doch allein der existenzialistische Horror der Adoleszenz ist Grund genug, die Sympathie in der Haltung Dawns zu finden, so unbeholfen sie auch agieren mag. Als drollig, doof, nachlässig, selbst- und eifersüchtig kann man sie im Verlauf nämlich auch bezeichnen – und da geht gewiss einiges schief.

All dies kulminiert schließlich zu einer schwarzhumorigen Erfassung, die vor Aufregung im Zuschauer herumbohrt und dann doch keinen Bonbon zur Belohnung serviert; uns manchmal auch bewusst auslacht. So ein Reality Check tut aber auch mal ganz gut. Dawn muss die Lage ebenso ausstehen und ihr Bestes versuchen. So basiert das Gefühl auch bei uns auf Gegenseitigkeit und überträgt sich mit Leichtigkeit. Doch auch, wenn ihr das Wehren entsagt wird, hält sie trotzdem noch dagegen – von Erfolg mag das nicht gekrönt sein, viel mehr kann man allerdings erst mal nicht machen. So oder so entwickelt sich daraus eine allein rein-filmisch gesehen starke Figur und der Film an sich zum ehrlichen Härtetest. Er bietet vielleicht keine befriedigende Lösung für die Probleme dieser Welt an, doch zumindest ein ebenso genervtes Mitgefühl für die Genervten, ohne Almosen zu verteilen. So wie das Leben immer verläuft, ist Letzteres sicher mehr wert als das bloße Aufgeben.

Meinungen

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Bisherige Meinungen

Yannic
5. Februar 2015
11:16 Uhr

Todd Solondz ist so der Mann. ♥

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Mr. Long

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