Mulder (David Duchovny) und Scully (Gillian Anderson) durchschreiten ein nebulöses Gewölbe, suchen das Ungeheuer, die Bestie, ihr letztes Opfer. Wie gewohnt. Sie fanden zusammen. Sie finden einander. Nicht nur die dabei zwangsläufig entstehenden Taschenlampenstrahlen, die sich überkreuzen und das ikonografische X formen – vor allem, ja vor allem unser Pärchen, das über viele (Staffel-)Jahre unter dem Radar unterdrückter Liebe miteinander tuschelte, flirtete, irgendwie spirituell verbunden war. Der Markstein dieser langlebigen Serie, in der Mulder und Scully Rationales und Irrationales disparat, aber deshalb umso aufmerksamer gegen verschleierte Regierungswahrheiten studierten, war ihre ziselierte Romantik, die sich nie umwandeln ließ in platte Liebeslitanei. „Akte X“, Staffel zehn indes, emporgehoben aus der Gruft eines geplünderten Grabes, verweht die Neunziger in die Nullerjahre: die in die Kamera forsch gehaltenen FBI-Ausweise oder etwa der Staub angesetzte, naiv-klobige und erkennungsmelodische Vorspann, wie ihn nur die Neunziger hervorbringen konnten. Diese Souvenirs einer treu konservierten Sehnsucht, die vorsintflutlichen Helden aus einer anderen Zeit noch einmal an sich zu drücken, ihnen jedoch kein einziges kultiges Erkennungsmerkmal zu nehmen, parfümiert mit einer Prise von 1993 ein mit den Jahrzehnten familiäres, zerkratztes, durchnässtes Sammelalbum, trifft aber (leider) eher den Zeitgeist von 2016, einer technoiden, enthemmt medialen und liebessterilen Epoche.

Chris Carter eröffnete einst die X-Akten, und er öffnet sie wieder. Dieses „Akte X“ freilich, angekommen im Hier und Jetzt, zeigt sich als sechs Folgen umfassendes Minimalexperiment, wie Fans und Interessierte auf eine Serie reagieren, die ihrer Zeit verhaftet war. Aller Seriosität enthoben, gilt es, den psychedelischen Quatsch zu retten, das Verschwörungsinferno, die Monstermarotten. Ernst nimmt sich dieses Revival ohnehin nicht – lediglich zwei mythologische Zwischeneinschübe rahmen vier effektetikettierte Monster-of-the-Week-Serials unterschiedlicher Qualität. Putzig wehren sich Mulder und Scully gegen die Displaygesellschaft. Da ist immer ein Blick griesgrämiger Abscheu, wenn sie (manchmal unkontrolliert knipsende) Smartphones benutzen (müssen), immer ein Blick konfuser Ratlosigkeit, wenn cholerische, dampfplaudernde Digitalkanäle die neuesten Klatsch- und Tratsch-Aluhut-Nachrichten aus der Tagesspalte verdrängt haben. Mulder und Scully wirken in ihrem konservativen, steif sondierenden Anzugträgergebaren antik, in der Postmoderne impulsgeleiteten Informationsfeuers erst recht. Es ist eine einzelne Szene, die Sicherheit ausstrahlt, das Genre rekapituliert, die konspirativen Siebziger wie die eklektischen Neunziger transzendiert: Scully nimmt Platz auf einer Bank bei strömendem Regen, empfängt einen Insider (Gaststar Annabeth Gish), der ihr die erforderlichen Geheimnisse anvertraut. Als ob das Chaos der Welt unter einem Regenschirm auf einer Bank zu retten wäre. Nur der weiße dampfende Kaffeebecher fehlt.

Die Quintessenz des zehnten Anlaufs „Akte X“ verbirgt sich daher im Aufschichten von bizarren Quereinfällen (Lauren Ambrose!), geschmackssicheren Entgleisungen (Mulder, die Hüften schwingend, im Jenseitslimbo) und dem, womit die Serie ihre Anhängerschaft ehemals mobilisiert hat. Fanatisch zitiert Carter sich selbst, erklärt Mulders und Scullys gemeinsamen Sohn William aus früheren Staffeln zum emotionalen Auffangbecken idealisierter Wunschvergangenheit – und thematisiert zugleich Scullys tot kranke Mutter (Sheila Larken) als Spiegelbild jener metaphysischen Krankenhausepisode, in der Scully seinerzeit im Sterben lag. Beide, Mulder und Scully, glauben weiterhin, aber zweifeln nach wie vor, beide zweifeln nach wie vor, aber glauben weiterhin, und der großartig mehrperspektivisch versponnene Ulk „Mulder und Scully gegen das Wer-Monster“ (mitsamt eines Kim-Manners-Grabsteins und eines „Akte X“-Titelmelodieklingeltons) hinterfragt schließlich das gesamtgesellschaftlich apodiktische Meinungsbild dessen, was den Menschen zum Monster und, vielmehr, das Monster zum Menschen macht. Oder Mulder zum Zweifler.

Entgegen burlesken Experimentierens, beispielsweise islamistischen Terror, stumpfsinnige Stammtischschläue und spielfreudig aufgelegte Cameos zu vernetzen (er darf nicht fehlen: der dämonisch entstellte „Raucher“), gelingt es Carter gleichwohl sehr selten, an seine beste Zeit anzuknüpfen. Dafür fehlt dieser Rückkehr die Überzeugung der eigenen Identität, des Stilbewusstseins und jener der Serie inhärenten Menschlichkeit fernab jedweder Pathetik, während Mulder und Scully, nunmehr ein in die Jahre gekommenes, schockgefrostetes Pärchen, die Neunziger überstanden, aber wenigstens das Händchenhalten nicht verlernt haben. Das meistgehasste Duo des FBI demontiert sich beinah. Aus einem wärmenden „Akte X“ ist ein auf Eis lagerndes Surrogat entstanden, mehr interessant als wirklich spannend und klinisch den Gepflogenheiten trickübersättigten Komplottkinos unterwürfig, das auf äußerliche Reize, auf absehbare Selbstverständlichkeiten dressiert zu sein scheint. Hier kann keine Liebe erneut entflammen, keine Romantik erneut hochkochen: Mulder und Scully, Scully und Mulder ermitteln meist allein, repräsentieren Verbindungsstücke. Keine verbindende Einheit.

Meinungen

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