„Der Einzelgänger“ beschreibt die Gedanken und Handlungen eines einzigen Tages im Leben von George – einem 58-jährigen britischen Literaturprofessor am San Tomas State College in einem Vorort von Los Angeles. Er ist gelähmt von der Trauer über seinen langjährigen Partner Jim, der Monate zuvor in einem Autounfall starb, aber entschlossen die Routinen des Alltags zu bestehen. Mittels eben jenes Romans von Christopher Isherwood wagen wir uns in eine Exkursion seiner abgehandelten Thematiken, welche wiederum von Regisseur Tom Ford in seiner Adaption „A Single Man“ aufgegriffen, erweitert wie auch abgeschwächt werden.

Die folgenden Zitate greifen auf die erste Auflage von „Der Einzelgänger“, herausgegeben durch den Suhrkamp Verlag im September 2009, zurück.

Inhaltsverzeichnis

Der Autor Christopher Isherwood

Christopher Isherwood gilt auch im Jahr 2013 nicht als übermäßig beeindruckende Persönlichkeit der Literaturwelt. Für die allgemeine Leserschaft ist er ein unbedeutender britisch-amerikanischer Romanautor, der die Vorlage lieferte für das Musical „Cabaret“, das lose auf dem autobiographisch inspirierten Roman „Leb wohl, Berlin“ (1939) basiert. Selbst, wenn man ihn ausschließlich nach seinen Leistungen beurteilt – nach seinen elf Romanen, vier Memoiren, drei Theaterstücken (verfasst mit dem weitaus bekannteren Lyriker W. H. Auden), unzähligen Essays und Drehbüchern –, selbst dann erscheint Isherwood unwillkürlich als Schriftsteller, der zu einfach, zu zugänglich ist, um tatsächlich eine umfassende Abhandlung zu erfordern: Er krankt an einer „verheerenden Lesbarkeit“, wie der Literaturkritiker Cyril Connolly einmal bemerkte.

Es kann jedoch nicht geleugnet werden, dass Isherwood zwei unschätzbare Bereicherungen für die englische Literatur schuf; zum einen unweigerlich „The Berlin Stories“: Eine Sammlung aus den Romanen „Mr. Morris steigt um“ und „Leb wohl, Berlin“, die das dekadente Berlin der Weimarer Republik vor Hitlers Machtergreifung schildern. Zum anderen „Der Einzelgänger“, eine semi-autobiographische Untersuchung[1], was es bedeutet homosexuell zu sein – in einer heterosexuellen Welt. „Der Einzelgänger“ mag zwar nicht der erste englischsprachige Roman sein, der offen von Homosexualität handelt – seit dem Ende des zweiten Weltkrieges befassten sich eine Vielzahl von britischen und amerikanischen Autoren mit der Thematik (allen voran Gore Vidal im Jahr 1948 mit „Geschlossener Kreis“)  –, es ist allerdings der erste, der Homosexualität mit der unmittelbaren Vertrautheit, dem Verständnis und der zwingenden Genauigkeit umsetzt, die Isherwood einbringt.

Der Roman „Der Einzelgänger“

Dennoch handelt „Der Einzelgänger“ nicht vordergründig von Homosexualität. Es ist vielmehr ein Roman über die Einsamkeit eines Menschen. Doch diese gründet sich nicht allein in dem persönlichen Verlust, sondern auch in der Isolation im homophoben Klima der frühen sechziger Jahre, in dem Außenseiter bewusst vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wurden. „Der Einzelgänger“ ist in seiner Reichweite absichtlich begrenzt, indem er die Ereignisse im Leben eines einzigen Mannes an einem einzigen Tag vom Erwachen bis zum Schlafengehen umfasst. Trotz der strukturellen Gelassenheit des Romans und der relativen Ereignislosigkeit kreiert Isherwood einen ungewöhnlichen Spannungsbogen. Der fast greifbare Gegner ist durchgehend die Zeit: Denn sie läuft George davon.

Isherwood beschreibt in seinem zehnten Roman einen Tag im Dezember 1962; der Schauplatz ist Südkalifornien: John F. Kennedy ist Präsident, die Welt ist noch mit der Kubakrise beschäftigt, und während die Sorge der älteren Bevölkerung Luftschutzbunkern gilt, erregt LSD die Neugierde der Studenten. Natürlich mangelt es an einer homosexuellen Bürgerrechtsbewegung und George ist ein leidlich bekennender Schwuler, der seine Homosexualität wahrscheinlich niemals offenkundig bekanntgeben würde, obwohl er sich gleichzeitig keine Gedanken über das Verbergen seiner sexuellen Vorlieben macht.

Wir folgen George durch die Ereignislosigkeit eines vollständigen Tages – er unterrichtet seinen Literaturkurs, besucht eine sterbende Frau (Doris, die einst Nebenbuhlerin um Jims Liebe war), arbeitet sich im Fitnessstudio ab und isst bei seiner alten Freundin Charlotte zu Abend, ebenso eine gebürtige Britin, die allerdings, anders als George, gerne wieder in die Heimat zurückkehren möchte. Schließlich endet er in der Starboard Side, einer schmutzigen, verwahrlosten Bar am Strand, die ein Anker ist und eine Rückkehr zu alten noch unreformierten Tagen. Ausgerechnet dort begegnet er Kenny Potter, einem schlaksigen Studenten aus seinem Literaturkurs. Kenny ist kokett, fast schon provokant, aber er sieht in George eher einen Ersatzvater als einen potenziellen Liebhaber. Und so kehren beide, nach einem Gespräch, das sie im Rausch des Alkohols führen und einem unbekümmerten Bad nackt im Meer, zu Georges Haus zurück – wo nichts weiter passiert; außer das George in seiner Trunkenheit das Bewusstsein verliert und schließlich am frühen Morgen, als Kenny längst verschwunden ist, an einem Herzinfarkt stirbt.

An der Oberfläche teilen die Charaktere in „Der Einzelgänger“ eine lose Übereinstimmung über Freiheit und Toleranz – nahe dem modernen amerikanischen Traum –, darunter aber liegen Misstrauen und unerkannte Konflikte. So besitzt jeder Charakter versteckte Bedürfnisse und Abneigungen; jeder Charakter hadert in seinem oder ihrem grundlegenden Wesen mit der Einstellung der Mehrheit. „Der Einzelgänger“ schildert eine Gesellschaft, die aufzubrechen droht durch die Sexuelle Revolution, Lesben- und Schwulenbewegung, Emanzipation der Frauen, die Bürgerrechtsbewegung („Black Power“), Friedensbewegung, den Generationskonflikt.

George ist ein 58-jähriger Engländer, ein Ausländer und Homosexueller. Er ist nach dem Tod seines Lebensgefährten einsam und fürchtet, wie ein jeder älter werdender Mensch, seinen eigenen Tod; aber ansonsten ist George nicht unglücklich – zumindest nicht mit sich selbst. Er ist unglücklich mit der Gesellschaft, weil sie ihn nicht verstehen oder akzeptieren möchte, wie er wirklich ist. Nach außen hin ist George kultiviert; aber im Verborgenen entpuppt er sich als bösartiges, zorniges Monstrum. Er ist ein rasender Frauenfeind, ein Kinderhasser, ein Mensch mit atemberaubend sadistischen Fantasien. Aber aus Sicht der Mehrheit ist George ein Monster schon weil er homosexuell ist; ein so genannter „Unaussprechlicher“ (S. 26).

George ist stoisch, verzweifelt, auch ein Narzisst – er ist kindlich, selbstsüchtig, anspruchsvoll, er strebt nach Glück –, und zuweilen wird sein Narzissmus tatsächlich grenzenlos, wenn er sein eigenes Spiegelbild in jedem erkennt, der ihm begegnet; wenn er jemanden liebt, nur für das, was er von sich selbst in ihm erkennt.

Die Feindschaft gegenüber Frauen definiert Isherwood auch durch die Beziehung zwischen George und Doris, einer früheren Femme fatale, die nichts dabei findet eine homosexuelle Beziehung zu infiltrieren: „Ich bin Doris. Ich bin Weib. Ich bin Hexenmutter Natur. Auf meiner Seite stehen die Kirche, das Gesetz und der Staat. Ich verlange mein biologisches Recht. Ich verlange Jim“ (S. 94). Doch nun, da Doris, „diese eingeschrumpfte gelbe Wachspuppe“ (S. 93), durch den Krebs im Sterben liegt empfindet George sie nicht mehr als das Feindbild, das Jim stehlen wollte. Durch den plötzlichen Verlust des Hasses und der Eifersucht bricht das Band zwischen Doris und George – und damit verliert George ein weiteres Stück von Jim, wie er auch ein Stück von sich selbst verliert.

Selbst bei seiner Freundin Charlotte, genannt Charley, durchströmt George ein Unwohlsein, weil sie Jim ersetzen möchte, obwohl „Jim in keiner Hinsicht ein Ersatz war, und es deshalb auch nirgendwo einen Ersatz für Jim gibt“ (S. 26). Als er bei ihr zu Abend isst, beginnt er im Rausch des Alkohols wieder „dieses im höchsten Maße geheimnisvolle und gar nicht sensationelle Ding zu fühlen – nicht Wonne, nicht Ekstase, nicht Freude, sondern einfach Glück“ (S. 120). Und er schreibt dieses Gefühl Charley zu, die „es erstaunlich oft schafft; … [selbst] wenn sie selber unglücklich ist“ (S. 121). Die zwei werden nicht als frühere oder mögliche Liebhaber eingeführt, sondern als beharrliche Überlebende, die einander unterstützen und in ihrer eigenen Magie verschiedene Träume verfolgen, während sie behaupten, es seien dieselben.

In den Augen seiner Nachbarn Mr. und Mrs. Strunk ist George dagegen ein mürrischer, alter Junggeselle, der in seinem Haus abgeschieden von der restlichen Nachbarschaft lebt – denn es ist nur über eine Brücke zu erreichen, die über einen Bach führt. Diese räumliche Distanz veranschaulicht Georges Isolation durch die Mehrheit, doch sie genügt nicht, die Sorgen seiner Nachbarn über seine Sexualität auszutreiben. Mr. Strunk beispielsweise „würde [George] nur allzu gern mit einem einzigen Wort festnageln: schwul. Aber weil wir ja mittlerweile das Jahr 1962 schreiben“, denkt George in einem Anflug von Ironie, „darf wohl auch von ihm der Zusatz erwartet werden: Mir persönlich ist es ja egal, was er treibt, solange er mich in Ruhe lässt“ (S. 24). Während Mr. Strunk in seinem modernen liberalen „Toleranzdenken“ George paradoxerweise duldet, wenn er ihn nur nicht belästigt, erhebt Mrs. Strunk andererseits den Anspruch eines pseudo-psychologischen Diskurs, um Georges Persönlichkeit zu „erklären“ und sie vielleicht zu „heilen“: „alles hängt von der Erbmasse ab, von frühen Umweltbedingungen“, stellt sie fest, „von einer gehemmten Pubertätsentwicklung respektive unterentwickelten Drüsenfunktion“ (S. 24/25). Dabei glaubt Mrs. Strunk als Verfechterin der weit verbreiteten Psychologie der 60er Jahre der Homosexuelle sollte „bemitleidet, aber nicht angeklagt werden“ (S. 25).

Indem „Der Einzelgänger“ Homosexualität schlicht als Individualität des Menschen darstellt, greift der Roman der folgenden Schwulenbewegung voraus und schildert Homosexuelle als Minderheit, deren Missstände anerkannt und denen Wertschätzung und Anerkennung entgegen gebracht werden sollten. Isherwood kreiert in George einen schwulen Charakter, dessen Homosexualität selbstverständlich ist – ein wesentlicher Bestandteil seiner gesamten Persönlichkeit. Der Roman verbindet die Fehlbehandlung von Homosexuellen mit der Diskriminierung, die andere Minderheiten in Amerika erlitten haben, und legitimiert dadurch die Missstände schwuler Menschen zu einer Zeit, als Homosexuelle weder als echte Minorität noch als achtbare Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen wurden. Isherwood greift aber nicht nur das Tabu der Homosexualität auf, sondern auch das Alter selbst. Er zeigt einen in die Jahre gekommenen Mann, der sich nach Liebe und vor allem nach Sexualität sehnt, dessen Alter sich nicht gegen das Empfinden von Lust verschließt. Dennoch beruht „Der Einzelgänger“ auch auf der Vorstellung eines ganz realen Liebesleids. Isherwood lernt als 48-jähriger den gerade 18-jährigen Maler Don Bachardy kennen; die beiden bleiben 33 Jahre zusammen, bis Isherwood 1986 stirbt – dazwischen jedoch kommt es immer wieder zu Turbulenzen. Die Auseinandersetzungen lösen jene Verlustängste aus, die Christopher Isherwood in seinem Buch „Der Einzelgänger“ beschreibt. Der verstorbene Lebensgefährte, die Pein mit der Einsamkeit, diese Themen projizierte Isherwood aus seinem Leben in das des erfundenen Universitätsprofessors. Es ist die Furcht des beinahe Sechzigjährigen, plötzlich ohne Bachardy zu leben.

In den unmittelbaren Jahren vor den Unruhen von Stonewall[2] ermöglichte die Veröffentlichung von Christopher Isherwoods „Der Einzelgänger“ eine neue Orientierung für homosexuelle Schriftsteller. Denn bislang fielen Romane, die homosexuelle Charaktere und Themen behandelten, in eine von vier Kategorien. Die ersten zwei Kategorien enthielten Romane, die vordergründig eine heterosexuelle Leserschaft ansprechen sollten und homosexuellen Charakteren zumeist unbedeutende Rollen zusprachen. Oder es handelte sich um rührselige und reißerische Stücke, in denen schwule Charaktere einsame, tragische Leben führten, die in Mord oder Freitod endeten. Die einzigen Romane jedoch, die eindeutig für homosexuelle Leser geschrieben wurden, galten per Definition als Pornografie.

„Der Einzelgänger“ jedoch animierte durch seine knappe Prosa Leser die Perspektive seines unscheinbaren, bürgerlichen und vor allem gewöhnlichen Erzählers einzunehmen. Er entging der Dämonisierung, Beschönigung und Effekthascherei anderer homosexueller Romane.

Die filmische Adaption „A Single Man“

Ebenso ist die filmische Adaption von „Der Einzelgänger“ durch den Mode-Designer Tom Ford eine akribisch durchgeplante, herzzerreißende Aneignung von Christopher Isherwoods Roman und ein Werk von atemberaubender Schönheit. Es gelingt dem Film auf bewundernswerte Weise die tief greifende Liebe zwischen George und Jim zu offenbaren, ebenso wie Georges Verzweifelung, als er sich dem Verlust von Jim bewusst wird. Zudem ermöglicht der Film durch die unaufgeregte und ehrliche Darstellung ihrer Beziehung einen vielschichtigen, nuancierten und überaus menschlichen Blick auf das häusliche Leben Homosexueller.

Einige Abweichungen vom Buch spiegeln jedoch die Notwendigkeit wider, eine Geschichte zu öffnen, die sich weitgehend im Inneren abspielt. Obwohl Isherwoods Roman einen allwissenden Erzähler aufweist, ist der Blickwinkel dessen die meiste Zeit so eng verbunden mit dem des Protagonisten, dass ausgedehnte innere Monolog stattfinden.
Als audio-visuelles Medium benötigt ein Film allerdings mehr an äußerem Handeln – man muss daher Wege finden, die Konflikte, die sich im Charakter der Figur abspielen, in Bildern zu enthüllen. Daher ist Fords Entscheidung verständlich, einige Szenen einzubauen, die nicht im Roman vorkommen, während er andere nicht berücksichtigt. So führt er George nach dem Tod seines langjährigen Liebhabers Jim als selbstmordgefährdeten Mann ein. Die Vorstellung eines möglichen Suizids fügt dem Film einen dramatischen Spannungsbogen hinzu und erzeugt aufrichtige Ungewissheit.

Aber währenddessen jene Neuerung erfolgreich die Verzweiflung von Georges Dilemma darstellt und die filmische Erzählung formt, offenbart sie eine bedeutende Abweichung, die den Handlungsspielraum erheblich einengt. Denn Isherwoods Charakter ist alles andere als selbstmordgefährdet. Er wird als „bei lebendigem Leibe absterbende Kreatur“ beschrieben, die „weiter kämpfen und kämpfen wird, bis sie fällt, nicht weil sie heroisch ist, sondern weil sie sich eine Alternative nicht vorstellen kann“ (S. 8). Die Frage im Roman ist nicht, ob George sich umbringen wird, sondern, ob er fähig ist seiner Besessenheit von der Vergangenheit zu entfliehen, und seine stürmische Persönlichkeit einer geistlichen Vorstellung unterzuordnen. Isherwoods bedeutendes Motiv ist die Vergänglichkeit des weltlichen Lebens, während Fords leichteres Motiv die Schönheit und Freude des Lebens selbst wahrnimmt.

Tatsächlich opfert der Film einen geschärften Spannungsbogen auf Kosten von Georges Charakter, der nun wesentlich weniger vielseitig, eindimensionaler dargestellt wird, als er es noch im Roman ist. George ist ein Durchschnittbürger, aber ein durchaus sehr eigentümlicher, sogar komischer. Die Komödie wird in Isherwoods Roman durch lachhafte, aber unterhaltsame Nebenbemerkungen erzielt, übertriebene Fantasien und die Aufmerksamkeit des Erzählers auf George als bisweilen aberwitziges Exemplar der menschlichen Spezies, der manchmal gleichzeitig Humor, Besorgnis, Bewunderung, Betroffenheit und Warmherzigkeit auslöst, welche im Film größtenteils fehlen – in dem George zumeist trist, konservativ und verschlossen wirkt.

Zudem macht der Film verhältnismäßig kurzen Prozess mit der Wut, die George als homosexueller Mann in einer schwulenfeindlichen Gesellschaft empfindet. Ford erkennt zwar Georges Minoritätsbewusstsein an – in einem verschlüsselten Exkurs im Klassenzimmer über unsichtbare Minderheiten, die von der Mehrheit gefürchtet werden –, sein Protagonist allerdings bekundet wenig von dem Zorn, den Isherwoods Charakter fühlt.

Im Roman steigert sich Georges Wut in eine Hasstirade gegen drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung, die er als „Ungeziefer“ (S. 36) bezeichnet. Er beschuldigt sie kollektiv für den Verlust von Jim. „In letzter Instanz nämlich sind sie ja alle verantwortlich zu machen für Jims Tod“, folgert er, „ihre Worte, ihre Gedanken, ihre ganze Lebensanschauung wollten ihn, selbst wenn sie von Jims Existenz gar nichts gewusst haben“ (S. 36). Tatsächlich vermittelt der Film kaum den Schwulenhass der frühen 60er Jahre, den Isherwood anschaulich darstellt. Doch eine Verharmlosung dieses Aspekts zeugt von Unwissenheit gegenüber der historischen und politischen Bedeutung Homosexuelle als unterdrückte Minderheit zu zeigen. Besonders da der Film – anders als im Roman –, nur einige wenige sichtbare Minderheiten präsentiert und daher Isherwoods bedeutenden Aspekt abstumpft, jeder gehöre irgendeiner Form von Minderheit an.

Dem Film mag es an politischer Konsequenz und spiritueller Tiefe mangeln, dennoch gelingt Tom Ford eine beeindruckende Interpretation universeller Liebe, ohne ihre Besonderheit zu leugnen.

Homophobie in der heutigen Gesellschaft

Obwohl sich vieles in beinahe fünfzig Jahren seit der Erscheinung von Isherwoods Meisterstück „Der Einzelgänger“ verändert hat, bestehen weiterhin zwei wesentliche feindliche Einstellungen gegenüber Homosexualität: zum einen irrationale Berührungsängste, die sich in einem Gefühl von Ekel äußern – „Mir persönlich ist es ja egal, was er treibt, solange er mich in Ruhe lässt“ (S. 24) –, zum anderen Verachtung kombiniert mit einer Form des Mitleids, die Isherwood als „Vernichtung durch Nachsicht“ (S. 24) bezeichnet. Doch zumindest das Kino drängt auf homosexuelle Thematiken abseits der reinen Kunst- und Independent-Szene und versucht in kommerziellen Produktionen ein breiteres Publikum anzusprechen. Nicht nur „A Single Man“ porträtiert die eigene Universalität über Homosexualität, sondern ebenfalls „Milk“ (2008), über den Bürgerrechtler Harvey Milk und „Brokeback Mountain“ (2005), die tragische Liebesgeschichte zweier Cowboys im Wyoming der 60er Jahre.

Auch wenn Homophobie prinzipiell abnimmt – noch immer empfinden fünfzig Prozent der Menschen in den USA gleichgeschlechtliche Liebe als grundlegend verwerflich; noch immer steht in sieben Staaten der Welt auf Homosexualität die Todesstrafe und in siebzig weiteren muss mit abnormen Gefängnisstrafen gerechnet werden.


[1] Als semi-autobiographisch wird der Roman bezeichnet, weil er nicht ausdrücklich vorgibt, eine Selbstbeschreibung des Lebens des Autors zu sein. Wohl aber greift er – auch in Gestalt der Hauptfigur –, die Biographie des Verfassers in zahlreichen Details auf.

[2] Serie von gewalttätigen Konflikten zwischen Homosexuellen und Polizeibeamten in New York Ende der 60er Jahre.

Quellen

Berg, James J. / Freeman, Chris: „The Isherwood Century: Essays on the Life and Work of Christopher Isherwood“, Univ of Wisconsin Press, 2. Auflage, Juli 2001

Carr, Jamie M.: „Queer Times: Christopher Isherwood’s Modernity“, Routledge, 1. Auflage, Mai 2006

Connolly, Cyril: „Enemies of Promise“, Univ of Chicago Press, 1. Auflage, Juli 2008, S. 74

Ford, Tom / Scearce, David: „A Single Man“, http://www.pages.drexel.edu/~ina22/splaylib/Screenplay-Single_Man,%20A.pdf, aufgerufen am 30.11.2013

Isherwood, Christopher: „Der Einzelgänger“, Suhrkamp Verlag, 1. Auflage, September 2009

Izzo, David Garrett: „Christopher Isherwood: His Era, His Gang, and the Legacy of the Truly Strong Man“, University of South Carolina Press, 1. Auflage, August 2001

Scobie, W. I.: „An Interview with Christopher Isherwood“, in: The Paris Review: The Art of Fiction No. 49, Heft 57, 1974

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