Alain Resnais’ komplettes Œuvre wird seit Anfang Januar 2015 chronologisch im Filmmuseum München gezeigt. „Nacht und Nebel“ bildet den Auftakt unserer Retrospektive über einen der wichtigsten Regisseure aller Zeiten.
1955 ist die Welt eine andere als noch zehn Jahre zuvor beim endenden Zweiten Weltkrieg. Die Bundesrepublik Deutschland ist darauf bedacht, das Beste aus der Situation des zweigeteilten Deutschlands zu machen. Am 5. Mai 1955 treten die Pariser Verträge unter Konrad Adenauer in Kraft – Deutschland ist ein souveräner Staat, tritt noch im selben Jahr der NATO bei und verpflichtet zum ersten Mal seit der Kapitulation wieder Soldaten. Die letzten Kriegsheimkehrer sind nach jahrelanger Gefangenschaft zurück im Lande. Albert Einstein, Thomas Mann und Alexander Fleming sterben. Filme wie Alfred Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“, Billy Wilders „Das verflixte 7. Jahr“ und Elia Kazans „Jenseits von Eden“ mit James Dean erscheinen. Doch niemand hat den Franzosen Alain Resnais auf dem Schirm, der mit seinem 32-minütigen Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ („Nuit et brouillard“) ein viel wichtigeres Werk erschuf, das erst 1956 in Deutschland gezeigt wurde. Jeder Mensch sollte es gesehen haben: Denn es erinnert auf einzigartige Weise an die grausamen Ermordungen während des Holocausts durch die Nationalsozialisten. Doch 1955 war die deutsche Regierung gegen die Veröffentlichung des Werks bei den Filmfestspielen von Cannes, erreichte ihr Ziel trotz dieses erfolgreichen Einschreitens jedoch nicht, weil es zu Protestaktionen prominenter Deutscher kam und monatelang Debatten geführt wurden, ehe der Film schließlich in Deutschland gezeigt werden konnte.
Resnais lehnte seine Beteiligung an dem Auftrag der Organisation Réseau du souvenir sowie Comité d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale zunächst ab. Als aber der Schriftsteller Jean Cayrol den begleitenden Text verfassen sollte, der selbst für zwei Jahre in das Konzentrationslager Mauthausen verfrachtet wurde, nahm er das Angebot an. 18 Millionen Francs kostete der Film, verwirklicht von einem der wichtigsten französischen Produzenten: Anatole Dauman, der weitere Resnais-Filme wie „Hiroshima, mon amour“ (1959) und „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) produzierte sowie Meisterwerke wie Chris Markers „Am Rande des Rollfelds“ (1962), Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“ (1978) und Andrei Tarkowskis „Opfer“ (1986).
Der Filmtitel stammt von Hitlers Nacht-und-Nebel-Erlass am 7. Dezember 1941, der die Deportation von Personen aus ganz Europa verordnete, die des Widerstands verdächtigt wurden. Viele der Opfer wurden in Konzentrationslager verschleppt. Im Film werden relativ allgemein gehalten die Deportierten gezeigt – es handelt sich daher um eine vermischende Darstellung von jüdischen Häftlingen sowie solchen, die vom Erlass betroffen waren. Unter historischer Beratung von Olga Wormser-Migot und Henri Michel kontrastiert das Filmteam Archivaufzeichnungen sowie -bilder mit farbigen Aufnahmen aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Majdanek. Ein Zimmer voller Frauenhaare, die zu Teppichen verarbeitet, abgezogene Haut, die als Papier verwertet werden, abgetrennte Köpfe, verstümmelte, verhungerte Leichenberge inmitten eisiger Kälte. Die Ruhe, das Verwesen der Vegetation, die Leere der Räume im Kontrast zur Farbe. Großartig ist zudem der Text, der die dramatischen Zeugnisse adäquat mit einer emotionalen Würze antreibt, unterlegt von Hanns Eislers Musik.
Ob es ausreicht, so etwas Grausames zu sehen, um nachdenklich zu werden, ist aus heutiger Sicht bestreitbar, da man eventuell „Schlimmeres“ aus Videospielen oder Splatterfilmen gewohnt ist. Dennoch ist nicht nur die abschreckende Funktion offensichtlich, sondern ebenso die warnende und zugleich erinnernde. Der Holocaust ist dort wirklich geschehen, in den endlosen Lagerstätten, den hunderten Gruben, in welche die Leichen geschmissen wurden, den Öfen, aus denen menschlicher Qualm hinausstieg und den Gaskammern, deren getarnte Duschköpfe Zyklon B ausstießen. Resnais’ Dokumentarfilm ist ein unheimlich wichtiger Beitrag, diese Ereignisse erstens filmisch festzuhalten und zweitens auszusprechen, dass eine solche Unmenschlichkeit nie wieder Realität werden darf. Und gerade jetzt, in Zeiten, wo Fremdenhass aus der Latenz hervorzustechen scheint, indem die PEGIDA diejenigen Köpfe sammelt, in denen die angesprochene Warnung keinen Platz finden wird und deren wirklichen Mentoren den Holocaust schlichtweg leugnen, gerade jetzt kann unsere Gesellschaft zeigen, dass sie gelernt hat aus den Verbrechen unserer Vorfahren, dass sie nicht vergessen wird, was „Nacht und Nebel“ bereits 1955 zu sagen hatte.
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