Alain Resnais’ komplettes Œuvre wird seit Anfang Januar 2015 chronologisch im Filmmuseum München gezeigt. „Letztes Jahr in Marienbad“ bildet einen weiteren Teil unserer Retrospektive über einen der wichtigsten Regisseure aller Zeiten.

„Ein Fremder trifft in einem internationalen Luxushotel auf eine junge Frau und erzählt ihr von der Liebesgeschichte, die sie vorheriges Jahr erlebt haben. Die Frau streitet dies ab, der Mann beteuert es trotzig. Wer hat Recht?“ So fasst Alain Resnais seinen zweiten Spielfilm „Letztes Jahr in Marienbad“ zusammen, der auf einem Drehbuch des Pioniers der Nouveau roman basiert, Alain Robbe-Grillet. Die Gesamtheit dieses Ausnahmefilms zu erfassen, liegt jedoch nach „Hiroshima, mon amour“ erneut außerhalb einer textlichen Betrachtung. Im Herbst 1960 und größtenteils in den Münchner Schlössern Schleißheim und Nymphenburg gedreht, verfolgt der Gewinner des Goldenen Löwen einen einzigartigen Faden, der nicht nur von jeglicher Chronologie befreit ist, sondern in verworrener Erzählweise die Grenzen des Kinos erweitert.

Unfassbar, in welch ästhetischer Pracht Resnais das Geschehen auf die Leinwand bringt: In akribischer Detailarbeit bilden die Kulissen ein perfektes Ganzes; dekoriert mit der förmlichen Äußerlichkeit erstarrter Menschen, die jedwede Emotion abgelegt haben und das monotone Spiel des Lebens niemals hinterfragen werden. Exakt an dieser Stelle sind bereits alle möglichen Interpretationen der Rolle von X (Giorgio Albertazzi) mit Argumenten ausgestattet. Für Robbe-Grillet ist der Versuch, A (Delphine Seyrig) durch X zu überzeugen, reine Suggestion, die letztendlich in der Vergewaltigung endet. Für Resnais ist X eine Art Psychologe, der A mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, die sie aufgrund der Emotionslosigkeit der Gesellschaft unterdrückt. Diese beiden Ansichten sind soweit von einander entfernt, dass es kaum fassbar ist, dass hier von ein und dem selben Film die Rede sein könnte. Dies allein zeigt die ungeheure Wichtigkeit dieses Meisterwerks, das neue Perspektiven schuf und bis heute als Meilenstein des avantgardistischen Films gilt.

Die Darstellung des unsinnlichen Paares, bestehend aus dem Outlaw – eine Art Rebell, der die Welt nicht mehr erträgt, jedoch ihr Schönstes beansprucht – und der rätselhaften, unwirklichen Frau, deren Gedanken so unergründlich erscheinen wie die Wege des Herrn, übersteigt die objektive Urteilsfähigkeit, was sich ebenso auf „Letztes Jahr in Marienbad“ übertragen lässt. Resnais und Robbe-Grillet reichen drei metonymische Figuren, um eine dynamische Polarisation zu erzeugen: die Begierde des Mannes, die reservierte Haltung der Frau, die stets gewinnende Instanz des Todes – beziehungsweise die bedrohliche Instanz des Gewinners in Gestalt von As Begleiter M (Sacha Pitoëff). Was sich hier in einer kaum nacherzählbaren Entwicklung abspielt, mag für viele Zuschauer unzugänglich bleiben. Manche werden sogar erwägen, dass sie zum Narren gehalten werden.

Denn es sind nicht nur sich wiederholende Szenen und Augenblicke, die Redundanz hervorrufen, sondern auch das Voice over von X, welches sofort zu Beginn eine merkwürdige Verbindung von den prächtigen Schauplätzen zur nicht vorhandenen Handlung herstellt, die in den ständig ähnlich gesprochenen Phrasen immer wieder vergeblich zu suchen ist. So wird ein innerer Monolog suggeriert, der jedoch ein beständiger Dialog mit A ist. Dies wird deutlich, da X mit einem italienischen Akzent französisch spricht. Die Phrasen begleiten aufwendige Kamerafahrten auf endlosen Gängen, die später Stanley Kubrick zu seinen berühmten Steadycam-Aufnahmen in „Shining“ inspirierten.

Neben den ähnlich ungewöhnlichen Szenen, die absichtlich abrupt von Ort zu Ort springen, sind es einzelne Einstellungen, die greifbare Punkte bilden, an denen man sich noch lange nach Ende des Films orientieren kann. Ein Beispiel hierfür ist ein faszinierender Moment der Starre, in der Schauspieler und Komparsen wie eingefroren in einem Raum platziert sind. Dieses Stillstehen der Zeit erinnert an das Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen. Da die Wirklichkeit der Diegese von vornherein nicht belegbar ist, sind Einsätze von Metalepsen und der Anschein von Unendlichkeit im Sinne einer Mise en abym äußerst interessant. „Letztes Jahr in Marienbad“ bedient sich so gut wie jedes erzählerischen Mittels – und man kann niemals von einem sukzessiven Erzählen ausgehen, noch weniger von einer objektiven Betrachtung. X kann eher als subjektiver Schöpfer der evozierten Bilder bezeichnet werden.

Der Zuschauer wird in die Irre geführt, das Marienbad wird zu einem Konstruktionsversuch X’ in einem Labyrinth der Erinnerung und Imagination. Gleichzeitig könnte man aber genauso gut davon ausgehen, dass die Vorstellungen As durch die Augen von X gezeigt werden – endlose Möglichkeiten. Ein weiteres Merkmal sind die wie Ameisen wirkenden Menschen in Anbetracht der Größe der Gebäude, die wie kleine Spielsteine eines determinierten Raum-Zeit-Kontinuums ihre Wege gehen. Wenig verwunderlich, dass der ominöse M auffällig häufig beim Nim-Spielen gezeigt wird, das seit Kinostart auch als Marienbad bekannt ist. Er bleibt unbesiegt, alles scheint vorherbestimmt. Das ständige Abstreiten von A und die hartnäckigen Behauptungen von X lassen einen faszinierenden Kontrast entstehen, der sich über den Film hinweg in die verschiedensten Richtungen weiterbildet.

Meinungen

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