Als Gerald Salmina 2007 in seiner Dokumentation „Mount St. Elias“ Axel Naglich, Jon Johnston und Peter Ressmann dabei begleitete, die längste Abfahrt der Welt von der Spitze bis ins Tal zu überleben, gelangen ihm bereits dort traumhafte Aufnahmen von der schier unmöglichen Expedition, die nicht nur einmal lebensbedrohlich wurde. „Wenn’s gut geht, bist’ der Held. Wenn’s schief geht, bist’ tot“ kommentierte Naglich dieses waghalsige Experiment im Nachhinein. Ressman, der als Ski- und Bergführer arbeitete, verstarb 2010 unglücklich bei einer Touristenführung in den Salzburger Bergen. Die Freunde Salmina und Naglich, der beim Hahnenkammrennen zudem als Rennleiter fungiert, fanden sich jedoch zu einem weiteren Projekt zusammen, das sich erneut mit wahrer Waghalsigkeit und energischem Extremsport befassen sollte: ein Film über die Streif.

Jeder, der schon einmal an der berüchtigten Mausefalle stand, egal ob im Winter oder Sommer, weiß um den natürlichen Respekt, der beim bloßen Betrachten dieser 85-prozentigen Neigung aufkommt. Dass man diese Steigung unmöglich befahren kann und deshalb in sie hineinspringen muss, erreicht eine regelrechte Faszination bei normalsterblichen Sportfans. Wer traut sich so etwas, wer springt freiwillig bis zu achtzig Meter ins Nichts? Selbst Deutschlands bester Freeskifahrer Bene Mayr kann da bloß von einem „Rutschen“ berichten. Immer wieder stürzen Topabfahrer wie zuletzt Daniel Albrecht und Hans Grugger in ihr Karriereende, dabei glücklicherweise nahe am Tod vorbei. Beim Hahnenkammrennen geht es um alles, es ist die gefährlichste Strecke des Weltcups und deshalb eine Möglichkeit für sich, in den Ski-Olymp emporzusteigen. Einmal die Abfahrt in Kitzbühel gewonnen zu haben, ist der Traum eines jeden Teilnehmers, vielleicht sogar ein Wunsch, der bei einigen noch über dem Gewinn einer Goldmedaille bei den Olympischen Spielen steht. Im Film ist dieser große Traum ein wichtiger Topos, der auf clevere Art einen roten Faden erhält: Man folgt Aksel Lund Svindal, Erik Guay, Hannes Reichelt, Max Franz und Yuri Danilochkin bei ihrer Vorbereitung auf das Rennen.

Es ist kein Wunder, dass bei den Bedingungen, die diese Abfahrt auf psychischer Ebene von den Athleten abfordert, das (Medien-)Interesse ungemein hoch ist: 1,3 Millionen Menschen schauen sich das Spektakel jedes Jahr im Fernsehen an, 580 Pressevertreter aus dreißig Nationen finden sich durchschnittlich ein, 45.000 Menschen verfolgen insgesamt das Geschehen. Die Meisten stehen unten im Zielraum, der auf der Streif einer Arena gleicht, in der die modernen Gladiatoren nach dem unvorstellbaren Kraftakt einfahren. Meistens sind diese einfach nur froh, dass sie die Fahrt verletzungsfrei überstanden haben. Doch selten sieht man Sportler bei sensationellen Zeiten so jubeln, selten erlebt man eine so anfeuernde Atmosphäre, in der die Luft ob der kaum auszuhaltenden Spannung zu zerreißen droht. Salminas „Streif – One Hell of a Ride“ fängt all dies wunderbar ein, die Voice-overs von Didier Cuche und Daron Rahlves kommentieren die von insgesamt vierzehn verschiedenen Kameras gefilmten, atemberaubenden Szenen in einer sehr authentischen Weise.

Natürlich sind auch die vielen Stürze Teil dieses Rennens; eine unvermeidbare Komponente, die im Film sehr passend dargestellt wird. Zum einen werden einzelne Stürze porträtiert, sogar mit berührenden Privataufnahmen im Falle von Hans Grugger, zum anderen werden viele Horrorszenarien gezeigt, die im Laufe der bald 75-jährigen Hahnenkammgeschichte stattfanden. Einigen Zuschauern, die live vor Ort waren, schweben wohl noch heute beobachtete Szenen vor Augen. Ganz wichtig ist hierbei die dokumentierte Intention der Sicherheitsbeauftragten, der Faszination für die kaum erfassbaren Naturkräfte entgegenzuwirken. Viele Schaulustige versammeln sich absichtlich an Stellen, an denen sich besonders häufig Stürze ereignen. Sie kommen in diesem Fall nicht nur wegen des Sports per se, sondern wegen des Scheiterns, wegen des Meisterns und vor allem wegen der drohenden Gefahr, die oft genug die Athleten übermannt. Sehr interessant ist hierbei auch die Geschichte der Sicherheitsnetze, welche die stürzenden Abfahrer auffangen. Durch Archivaufnahmen wird klar, wie sehr die Gefahr früher unterschätzt wurde und welcher Aufwand heute betrieben wird, um Schlimmstmögliches zu vermeiden. Diese Vertiefungen verleihen dem Dokumentarfilm etwas sehr Positives und bewirken eine gelungene Abwechslung zu den vielen Skiszenen, die von Kameramann Günther Göberl beeindruckend festgehalten wurden.

Die Vorbereitung für das Rennen dauert nahezu ein ganzes Jahr. Sobald am 24. und 25. Januar die Rennen vorbei sein werden, fangen die Veranstalter rund um Gerhard Walter und Axel Naglich schon für das Jahr 2016 an zu planen. Dass die Kitzbüheler mit einem ganz eigenen Elan und großem Stolz die mediale Aufmerksamkeit auf ihre Streif richten, ist aus sportlicher Hinsicht nicht nur berechtigt – es ist wunderbar, dass mit einer absolut gesunden Balance von Faszination für den Alpinsport und Liebe zur beheimateten Bergnatur mit allen Kräften ein jährlich stattfindendes Ereignis ermöglicht wird, das dieses Jahr sein 75. Jähriges feiert. Die insgesamt rund 1.400 Menschen, die bei der Austragung mitgearbeitet haben, sind daher maßgeblich daran beteiligt, dass „Streif – One Hell of a Ride“ in seiner Gesamtheit so ansehnlich gefilmt werden konnte. Genau im richtigen Moment kommt also ein Dokumentarfilm in die Kinos, der in fantastischen Bildern einen Mythos erfolgreich einfängt und damit der Sehnsucht nach einer modernen, filmischen Verarbeitung stilsicher nachkommt.

Meinungen

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Bisherige Meinungen

Yannic
17. Januar 2015
01:29 Uhr

Wie bitte, die Regie ist nicht von Willy Bogner? Man erlebt mich erstaunt.

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